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Foto: Dirk Ostermaier
Foto: Dirk Ostermaier

Kampf gegen Antisemitismus und Diskriminierung

Meron Mendel: „Juden sind auch heute noch eine Projektionsfläche für viele Probleme“

Meron Mendel leitet seit 2010 die Bildungsstätte Anne Frank. Im Gespräch mit dem JOURNAL FRANKFURT erzählt Mendel, wie sich die Einrichtung gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung stark macht – und weshalb diese Bildungsarbeit heute wichtiger denn je ist.
JOURNAL FRANKFURT: Herr Mendel, Sie sind seit einigen Monaten auffällig aktiv bei Twitter. Wie kommt das?

Meron Mendel: Wir haben in der Bildungsstätte bemerkt, dass wir dort und in den sozialen Medien allgemein verstärkt Anfeindungen ausgesetzt wurden. Darauf mussten wir reagieren. Den Rechten geht es oft um Raumgewinn durch aggressives Auftreten und Lautstärke. Ein typisches Beispiel dafür ist die Buchmesse 2017. Wenn wir auf die Straße gehen, um gegen Hass zu kämpfen, dann müssen wir auch versuchen, den virtuellen Raum zurückzuerobern. Ich musste mich zwar an die wenigen Zeichen auf Twitter gewöhnen, ein Zeichen setzen kann man dort aber allemal.

Haben Sie das Gefühl, dass Antisemitismus durch die stärkere Nutzung sozialer Medien zugenommen hat?

Antisemitismus ist durch die sozialen Medien sichtbarer, lauter geworden. Der Hass gegen Juden hat aber auch vor dem Zeitalter des Internets seine Artikulationen gefunden. Die Sprachwissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel hat zuletzt mehr als 15.000 Hassbriefe ausgewertet, die an die Israelische Botschaft und den Zentralrat der Juden verschickt wurden. Die Anfeindungen und Beleidigungen darin entsprechen in etwa dem, was heute über die sozialen Medien kommuniziert wird. Der Unterschied liegt darin, dass die Hassbotschaften heute nicht nur bei dem Adressat ankommen, sondern von Millionen Menschen in den sozialen Medien gelesen werden können.

Warum, glauben Sie, nimmt der Antisemitismus derzeit in Deutschland zu?

So klischeehaft das klingen mag, aber der Antisemitismus bietet auch heute noch eine gewisse Welterklärung an. Viele Menschen denken, er wäre nur ein Zeichen von Unwissenheit und wenn man Aufklärung betreibt, könne man ihn aus den Köpfen verbannen. Aber 2000 Jahre des Ressentiments, das in Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung mündete, lassen sich nicht so einfach beseitigen. Die Juden sind auch heute noch eine Projektionsfläche für viele Probleme. Gibt es eine Wirtschaftskrise, ist der „jüdische Kapitalismus“ schuld. Scheint der Weltfrieden in Gefahr, ist das vor allem die Schuld des Staates Israel. Dieses Schema lässt sich beliebig fortführen. Auch die Vorstellung beziehungsweise Verschwörungstheorie, „die Juden seien überall“, ist sehr wirkungsmächtig. Ein Jude ist auf der Straße unsichtbar, man erkennt ihn äußerlich nicht. Trotzdem denken viele Menschen in Deutschland, 20 Prozent der Bevölkerung seien jüdisch. Es sind tatsächlich nicht einmal 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Solche Klischees sind in alle gesellschaftlichen Gruppen vertreten.

Vor kurzem wurde bekannt, dass sich innerhalb der AfD eine jüdische Initiative gegründet hat. Wie lässt sich so etwas erklären?

Es handelt sich im Wesentlichen um eine mediale Inszenierung und keine nennenswerte politische Entwicklung. Diese Gruppierung von nicht einmal zwanzig Personen erfährt von der jüdischen Gemeinde in Deutschland keine Unterstützung. Mal ganz abgesehen davon, dass sich Politiker wie Björn Höcke oder Alexander Gauland schon öffentlich antisemitisch geäußert haben, ist ja relativ offensichtlich, dass die AfD durch die vermeintliche Nähe zu Juden und Israel eine Legitimation für ihre rassistische Politik gegen Muslime versucht. Man darf bei der AfD auch von politischem Kalkül ausgehen. Es ist nicht klug, sich der bürgerlichen Mitte in Deutschland als judenfeindlich zu präsentieren. Diese Politik ist nicht mehr als eine Fassade.

Sie äußern sich regelmäßig kritisch zu den Texten des Rappers Kollegah. Warum ist Ihnen dieses Thema wichtig?

Kollegah ist bei sehr vielen Jugendlichen beliebt und hat damit eine Vorbildfunktion. In seinen Texten und Interviews verbreitet er regelmäßig Vorurteile vom geldgierigen Juden oder einer verschwörerischen, jüdischen Weltregierung. Es ist gar nicht so leicht, dass Jugendliche wieder verlernen, was sie über die Popkultur absorbiert haben. Aber es ist natürlich auch nicht zielführend, wenn alte Menschen wie ich den Jugendlichen sagen, dass sie diese Musik nicht hören sollen. In unseren Workshops gehen wir das entsprechend an: Die Trainerinnen und Trainer, die von uns ausgebildet wurden und zum Beispiel mit Schülern zum Thema Antisemitismus oder Diskriminierung arbeiten, sind selbst nicht viel älter als die Jugendlichen. Sie diskutieren dann auf Augenhöhe darüber, was an den Texten von Kollegah antisemitisch, verschwörungsideologisch oder sexistisch ist. Aus Erfahrung wissen wir, dass junge Menschen am besten mit und von jungen Menschen lernen.

Wie engagiert sich die Bildungsstätte konkret gegen Antisemitismus, gegen Diskriminierung und Vorurteile, gegen Hass und Hetze?

Gut, dass Sie die Frage so weitläufig gestellt haben, denn ich möchte betonen, dass wir unsere Arbeit nicht auf Antisemitismus beschränken. In unserer politischen Bildungsarbeit nehmen wir auch Rassismus, Homophobie und andere Formen der Menschenfeindlichkeit in den Blick. Wir erreichen jährlich 50.000 Jugendliche und 15.000 Erwachsene, meist Lehrkräfte. Besonders beliebt sind unsere pädagogischen Ausstellungen, die wir Lernlabore nennen. Jugendliche können sich hier an interaktiven Stationen spielerisch mit komplexen Themen auseinandersetze. Das innovative Konzept wurde sogar für die Schweiz adaptiert. Im neuen Lernlabor „Anne Frank. Morgen mehr“, das wir im Juni eröffnet haben, erfährt man zum Beispiel viel über Anne Frank und ihre Geschichte. Dabei geht es aber auch um ganz aktuelle Formen von Diskriminierung, die uns im Alltag, auf der Straße oder in den sozialen Netzwerken begegnen. Wir kommen nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Es geht eher um Irritationen. Zum Beispiel an der Station „Racist Glasses“, da zeigt eine einfache Brille, wie Stereotype entstehen. Plötzlich verwandelt sich der Student mit Bart in einen Terroristen, die Frau im Rock in eine Prostituierte. Die Trainer begleiten jeden Besuch, moderieren die Gruppendiskussionen, stehen für Fragen zur Verfügung. Was uns selbst überrascht hat: Das Lernlabor ist auch bestens für die Bildungsarbeit mit Erwachsenen, für Fortbildungen mit Lehrern und pädagogischen Fachkräften geeignet. Man kann das Lernlabor übrigens auch als Einzelbesucher oder mit der ganzen Familie besuchen – an den Wochenenden wie eine ganz normale Ausstellung, nur spannender.

Können Sie einen Ausblick auf zukünftige Projekte geben?

Allgemein gesprochen bleiben wir meiner Meinung nach nur relevant, wenn wir auf den Zug der Digitalisierung aufspringen. Wir können Jugendliche nur erreichen, wenn wir mit dem Zeitgeist gehen, auch technisch. An den Schulen und auch in der Bildungspolitik wird noch steinzeitmäßig von Digitalisierung gesprochen, dabei ist die Lebenswelt der Jugendlichen doch schon längst digital. Wir müssen die Jugendlichen aber unbedingt in ihrer Realität abholen. Unsere Programme müssen spannend sein, damit die Jugendlichen intrinsisch motiviert sind. Wir entwickeln aktuell ein Projekt zur digitalen Simulationen von Radikalisierung. Es geht darum, nachvollziehbar zu machen, wie sich Menschen im Netz radikalisieren und was man dagegen tun kann. Ein weiteres Projekt entsteht gerade in Zusammenarbeit mit der TU Darmstadt. Hier geht es darum, dass Jugendliche mit einer Virtual Reality Brille in Situationen versetzt werden, bei denen sie Entscheidungen treffen müssen – zum Beispiel, Zivilcourage zu zeigen. Unglaublich viele Möglichkeiten stehen uns durch diese Technologie offen. Der Lerneffekt wird dadurch sehr lebensnah und effektiv.

Eine letzte Frage: Denken Sie, dass in Deutschland eine gute Aufarbeitung stattgefunden hat?

Das ist eine sehr komplexe und schwierig zu beantwortende Frage. Man müsste 70 Jahre Geschichte aufarbeiten. Die Entnazifizierung wurde von den Besatzungsmächten durchgesetzt, es gibt viele Missstände in der Aufarbeitung der NS-Geschichte, aber es hat sich in den vergangenen 70 Jahren vieles zum Positiven gewandelt. Für mich sind die aktuellen Zustände besonders wichtig. Da ist zu beobachten, dass Lehrkräfte oft überfordert sind, wenn es um Diskriminierung, Antisemitismus oder Rassismus geht. Sie schauen entweder weg oder reagieren total übertrieben. Es wird derzeit viel von importiertem Antisemitismus aus arabischen Ländern gesprochen, was insofern in die Irre führt, weil der Antisemitismus der deutschen Mitte durch Studien bestens belegt ist. Andererseits ist Antisemitismus in Ländern wie Syrien oder mittlerweile auch der Türkei tatsächlich so etwas wie eine Staatsdoktrin. Das stellt das Schul- und Bildungssystem vor enorme Herausforderungen. Wenn jugendliche Migranten aus diesen Ländern antisemitisches Gedankengut äußern, ist es weder gut, wenn die Schule die Polizei bestellt, noch sollte man wegschauen. Im Zuge des erstarkenden Rechtspopulismus erleben wir derzeit außerdem, wie sich die Grenzen des Sagbaren verschieben, wie Nazi-Jargon in die Alltagssprache sickert, wie menschenfeindliche Äußerungen immer offener und unbekümmerter geäußert werden. Zugleich rückt die Zivilgesellschaft zusammen. Viele Menschen kommen auf uns zu und sagen, dass sie sich engagieren wollen. Ihre berechtigten Sorgen geben mir Hoffnung.
 
18. Dezember 2018, 12.39 Uhr
Karl Linsler
 
 
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