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Foto: Dirk Ostermeier
Foto: Dirk Ostermeier

Frankfurt liest ein Buch

Teil 2: Der Mord an Rosemarie Nitribitt

Am 1. November 1957 wird in einer Wohnung in der Frankfurter Innenstadt die Leiche einer 24-jährigen Prostituierten gefunden. Die Reihe an Ermittlungspannen ließen damals viele spekulieren: Sollte der Mord an der Prostituierten etwa nie aufgeklärt werden?
Es ist der 1. November 1957. Der Hessische Rundfunk verkündet: „In ihrer Wohnung in der Frankfurter Innenstadt ist heute Nachmittag gegen 17 Uhr das 24-jährige Mannequin Rosemarie Nitribitt tot aufgefunden worden.“ Was darauf folgt, ist eine Reihe an Ermittlungspannen, die der eigentliche Skandal in der Geschichte rund um Rosemarie Nitribitt sind. Sie lassen viele Bürgerinnen und Bürger spekulieren: Sollte der Mord an der Prostituierten etwa nie aufgeklärt werden?

Es ist die Putzfrau Erna Krüger, der die Brötchentüten auffallen, die sich seit Tagen vor Nitribitts Haustür stapeln. Als Krüger nach mehrmaligen Klingeln nicht die Tür geöffnet wird, und das Jaulen von Nitribitts Pudel nicht verstummt, ruft sie die Polizei. Die Beamten öffnen gewaltsam die Tür, in der Küche finden sie einen Topf mit Reisbrei, im Schlafzimmer eingesperrt den Hund. Rosemarie Nitribitts lebloser Körper liegt auf dem Wohnzimmerteppich: ein Bein auf dem Sofa, das andere auf dem Boden, unter ihrem Kopf ein blutiges Handtuch, daneben ein zerbrochener Aschenbecher. Nitribitts Leiche weist eine Platzwunde am Hinterkopf und Würgemale am Hals auf.

Nitribitts Tod deutet sich schon vor dem Auffinden der Leiche an: Fast alle, die den Tatort betreten, berichten danach von einem furchtbaren Gestank, obwohl die Fenster geöffnet waren. So muss es auch den Beamten gegangen sein, die als erste Nitribitts Apartment mit voll aufgedrehter Fußbodenheizung betreten und wegen des Verwesungsgeruchs sofort die Fenster öffnen, ohne die Raumtemperatur zu messen – ein fataler Ermittlungsfehler. Auf Rosemarie Nitribitts Grabstein ist der 1. November 1957 als Todestag eingraviert, wann sie wirklich starb, konnte jedoch aufgrund der fehlenden Messung der Raumtemperatur nie bestimmt werden. Laut den Ermittlungsakten galt lange, der Freier Siegfried V. habe die Prostituierte am 29. Oktober um 15.30 Uhr „als letzter nachweislich lebend gesehen“. Ihm gegenüber soll Rosemarie gesagt haben, dass sie ihren Wagen um 17 Uhr aus der Werkstatt abholen wolle, doch dort kam sie nie an. Die Ermittler schließen daraus, dass Rosemarie Nitribitt am 29. Oktobers zwischen 15.30 Uhr und 17 Uhr ermordet wurde.

Die Suche nach dem Täter beginnt und die Ermittlungspannen häufen sich. Viele davon passieren noch am Tatort. So laufen am 1. November nicht nur Polizisten und und Beamte der Spurensicherung durch Nitribitts Wohnung, auch zahlreiche Journalisten erhalten Zutritt zum Tatort – das „perfekte Spurenvernichtungsprogramm“, wie es die Süddeutsche Zeitung 50 Jahre später in einem Artikel nannte. Hinzu kommt, dass viele von ihnen rauchen und ihre Zigarettenstummel aus dem Fenster werfen. Das machte es unmöglich, herauszufinden, ob sich unter ihnen auch Zigarettenüberreste des Mörders befinden. Mehrere Tage lang glauben die Ermittler, ein am Tatort gefundener Hut gehöre dem Mörder – bis sich herausstellt, dass das vermeintliche Beweisstück einem der Kriminalkommissare gehört. Dieser hatte ihn bei der Durchsuchung des Tatorts abgelegt und anschließend auch noch vergessen. Jener Kommissar sorgt auch gleich noch für die nächste Ermittlungspanne: Er lässt während der Tatortuntersuchung Bilder aus der Wohnung verschwinden. In der Nitribitt-Dokumentation von Helga Dierichs erklärt er: „Ich wollte nicht, dass die Presse diesen Mann, einen Spitzenmann aus der Industrie, fotografiert und dann habe ich das Bild an mich genommen.“ Mit einem breiten Lächeln fährt er fort: „Und dann ist es weg geblieben.“

Ob der weitere Verlauf an einer Überforderung der Polizei liegt, oder an der Tatsache, dass Rosemarie letztendlich „nur“ eine Prostituierte war, kann bloß vermutet werden. Die Pannenserie reißt auch danach nicht ab: Der Chef der Kriminalpolizei Albert Kalk übertägt dem Chef des Raubdezernats den Fall als Karrierechance; dieser gibt den Fall bereits nach elf Tagen wieder ab. Auch mit der Befragung der Nachbarn lassen sich die Beamten viel zu lange Zeit. Und nicht nur die Fotos in Rosemaries Wohnung verschwinden, auch vier Bände der Hauptakte, Nebenspuren und Dokumente sind plötzlich nicht mehr auffindbar. Die prominenten Namen, die in diesen Akten zu finden sein sollen, legen den Verdacht der Manipulation nahe. Vieles an dem Umgang der Ermittler mit eben jenen Namen lässt vermuten, dass nicht die Aufklärung des Mordfalls an erster Stelle stand. Der Krupp-Erbe Harald von Bohlen und Hallbach, der eine Affäre mit Nitribitt hatte und ihr Liebesbriefe schickte, wurde nur kurz befragt. Sein Personal gibt ihm ein Alibi – das genügt den Ermittlern und der Krupp-Erbe scheidet schnell als Tatverdächtiger aus, obwohl der genaue Todeszeitpunkt von Rosemarie Nitribitt nie festgestellt werden kann. Und warum sollte er sie auch umgebracht haben? Die Polizei konzentriert sich auf ein Mordmotiv, das so gar nicht zu Nitribitts reichem Kunden passt: Habgier. Dass Nitribitt reich war, ist kein Geheimnis und in ihrer Wohnung, stellen die Ermittler fest, fehlt offenbar eine hohe Summe Bargeld.

Der Verdacht fällt zunächst auf die Putzfrau Erna Krüger, die das Verschwinden Nitribitts zuerst bemerkte. Krüger wird intensiv befragt, scheidet am Ende jedoch für die Ermittler als Tatverdächtige aus. Doch schnell zieht noch jemand anderes die Aufmerksamkeit der Beamten auf sich: Der 36-jährige Handelsvertreter Heinz Christian Pohlmann. Pohlmann sorgte sich um Rosemarie Nitribitt, er war ein Freund, kein Geliebter, ging für sie einkaufen, kochte ihr Reisbrei und soll zu Rosemaries Sicherheit im Zimmer nebenan gewartet haben, wenn ein neuer Freier sie besuchen kam. Wurde ihr dieses Vertrauensverhältnis letztendlich zum Verhängnis? Pohlmann hatte auch eine andere Seite und war zuvor wegen Betruges verurteilt worden. Das Handtuch, das vermutlich ihr Mörder der blutenden Nitribitt noch unter den Kopf gelegt haben muss, spricht für eine Beziehungstat. Und Pohlmann, der zuvor ständig in Geldnot war, verfügt nach Nitribitts Tod plötzlich über eine hohe Summe Bargeld.

Bei der Durchsuchung von Nitribitts Wohnung werden 1000 DM gefunden, ein für ihre Verhältnisse sehr geringer Betrag. Einzahlungen auf Konten oder Hinterlegungen in ihrem Safe hätten nach Angaben der Ermittler schon länger nicht mehr stattgefunden. Zudem sagen Zeugen aus, sie habe am 29. oder 30. Oktober bei einem Juwelier in der Frankfurter Innenstadt einen Diamant-Ring im Wert von 18 000 DM abholen wollen. Als Pohlmann kurze Zeit nach Rosemaries Tod plötzlich über rund 18 000 DM verfügt, seine Schulden bezahlt und sich ein neues Auto kauft, gerät er verstärkt ins Visier der Ermittler. Er ist der perfekte Tatverdächtige: Er hat ein enges Verhältnis zu Rosemarie Nitribitt und weiß daher vermutlich auch von der hohen Summe Bargeld in ihrer Wohnung. Er lieh sich nach Angaben mehrerer Zeugen häufig Geld, hatte hohe Schulden und lebte über seine Verhältnisse. Auf Nachfrage, wie er zu dem Geld gekommen sei, macht er widersprüchliche und teilweise auch gar keine Angaben. Hinzu kommt, dass Heinz Pohlmann wegen Betruges vorbestraft ist, mehrere Zeugen charakterisieren ihn als einen Mann, „der schwindelt, wenn er den Mund aufmacht.“ Auf Pohlmanns Hose, die zum vermeintlichen Tatzeitpunkt getragen haben soll und später einer Bekannten gibt, werden dunkle Schlieren gefunden, die die Ermittler für Blut halten – das ist für die Beamten Beweis genug.

Im Juni 1960 beginnt das Verfahren gegen Pohlmann, angeklagt ist er wegen Mordes und besonders schweren Raubes. Doch später tauchen Zeugen auf, die Rosemarie noch nach dem von den Ermittlern festgelegten Tatzeitpunkt beim Kauf von Kalbsleber gesehen haben wollen. In Nitribitts Kühlschrank wurde tatsächlich Kalbsleber gefunden. Das Blut an Pohlmanns Hose, die zu diesem Zeitpunkt schon in dem Besitz seiner Bekannten war, konnte also nicht von Rosemarie Nitribitt stammen. Viele weitere Indizien gegen Pohlmann fallen der Staatsanwaltschaft durch den geänderten Tatzeitpunkt weg.

Am 13. Juli 1960 verkündet das Schwurgericht das Urteil: „Es lautet im Namen des Volkes. Der Angeklagte Heinz Pohlmann wird freigesprochen.“ Die Spekulationen hören trotzdem nicht auf: Viele vermuten danach, Pohlmann habe Rosemarie Nitribitt zwar vielleicht nicht umgebracht, doch die Leiche noch vor Erna Krüger entdeckt und das Geld aus der Wohnung gestohlen. Was am 29. Oktober 1957 wirklich in der Stiftstraße 36 geschah, bleibt höchstwahrscheinlich für immer einer der großen Mythen Frankfurts.

>>Dieser Text ist zuerst in der Ausgabe 04/2020 des JOURNAL FRANKFURT erschienen.
 
23. Oktober 2020, 09.48 Uhr
Elena Zompi
 
 
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