Foto: Die Gedenktafel in der Braubachstraße erinnert an die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. © Dagmar Priepke
Frankfurter Braubachstraße

„Er gehört zu mir“ – oder die Geschichte hinter der Geschichte

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„Er gehört zu mir“ von Marianne Rosenberg gehört zu den größten Hits aller Zeiten. Seit den 1970er-Jahren ist er eine Hymne der Schwulenbewegung. Aber was verbindet diesen Song mit der Frankfurter Braubachstraße? Ein Gastbeitrag von Dagmar Priepke.

Dagmar Priepke /

Wer die Frankfurter neue Altstadt besuchen will, muss durch die Braubachstraße oder diese zumindest überqueren. Sie ist gewissermaßen die Hauptader zum Frankfurter Herzen – der neuen Altstadt. Die Braubachstraße steht für eine lebendige Urbanität und für einen dynamischen Mix aus Wohnen, Leben und Arbeiten.

Entstanden nach dem Abriss von etwa einhundert Fachwerkhäusern Anfang des 20. Jahrhunderts ist die Straße besonders international ausgerichtet: mittendrin das Museum für Moderne Kunst (MMK), am anderen Ende das Fotografie Forum (FFF) und von dort aus wird die Frankfurter Buchmesse organisiert. In der Braubachstraße gibt es abwechslungsreiche Gastronomie, dazu spannende kulturelle Angebote. Etwa in der Mitte des Straßenzuges beim Restaurant „Margarete“ – an dem Haus des früheren Stadtgesundheitsamtes – hängt eine Gedenktafel.

Info
Der Text der Gedenktafel lautet:

Mehrere hunderttausend europäische Roma und Sinti wurden unter nationalsozialistischer Herrschaft ermordet. An über 20 000 deutschen Roma und Sinti wurden „rassenbiologische“ Untersuchungen durchgeführt. Zwangssterilisation, Inhaftierung und Folter waren die Vorstufe des massenhaften Todes in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nazis.

Von in Frankfurt am Main lebenden Roma und Sinti wurden: 172 Personen in „Zigeunerlagern“ in der Diesel- und Kruppstraße interniert, 8 Personen zwangssterilisiert, 174 Personen nach Auschwitz deportiert und mindestens 89 Roma und Sinti dort ermordet.

Ab 1947 waren zwei maßgeblich an „rassenbiologischen Untersuchungen“ beteiligte Personen, Robert Ritter und Eva Justin, im Stadtgesundheitsamt Frankfurt am Main in leitender Funktion beschäftigt. Sie wurden für ihre Verbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen. Die beiden Namen stehen stellvertretend für diejenigen, die unter dem Deckmantel von Wissenschaft und Forschung oder durch Wegsehen und Schweigen den Völkermord an Roma und Sinti ermöglichten.

In Achtung vor den Opfern, als Erinnerung , Mahnung und Verpflichtung.


Wer war eigentlich Eva Justin?

Eva Justin wird 1909 in Dresden als Tochter eines Reichsbahnbeamten geboren. Der Vater ist sehr streng und regelorientiert. 1925 mit fünfzehn Jahren wird Justin Mitglied im Jungdeutschen Orden, dieser gilt als antisemitisch. 1934 legt sie ihr Krankenschwester-Examen in Tübingen ab und lernt dort im Krankenhaus Dr. Robert Ritter kennen, der in der Rassenforschung arbeitet. Sie wird seine Assistentin und forscht insbesondere zu Roma und Sinti und sie folgt ihm 1936 nach Berlin, um dort an der von ihm gegründeten Rassenhygienischen Forschungsstelle zu arbeiten. Sie wird seine Geliebte, er ist bereits verheiratet.

Justin und Ritter erstellen etwa 24 000 Gutachten, die die Grundlage für die Deportationen von Roma und Sinti in das KZ Auschwitz sind. Das Gaskammern und Krematorien in Auschwitz existieren, ist beiden bekannt. Justin selbst spricht etwas Romanes, sodass die Roma schnell Vertrauen zu ihr fassen. Von den Roma und Sinti wird sie „Loi“ – die Rote – wegen ihrer roten Haare genannt und als besonders gefühlskalt beschrieben. 1945 gibt sie bei der Entnazifizierung „politisch nicht belastet“ an. Nach dem Krieg – 1948 – folgt sie Ritter als Mitarbeiterin in das Frankfurter Gesundheitsamt und arbeitet dort als Amtsärztin.

Das Ehepaar Irmgard und Valentin Senger, der Autor der „Kaiserhofstraße 12“, machen 1963 mit einem Film im Hessischen Rundfunk auf die Verbrechen der beiden Rassenforscher aufmerksam. Eva Justin stirbt 1966. Der Hinweis in einigen biografischen Texten zu Eva Justin, sie habe in späten Jahren zum Glauben gefunden, mutet heute seltsam an: als sei diese späte Hinwendung zum Glauben ihre Sühne oder Wiedergutmachung für ihre abscheulichen Tätigkeiten während des Nationalsozialismus.

Die Geschichte hinter der Geschichte

Und erzählt werden sollte auch diese Geschichte – nämlich die Geschichte hinter der Geschichte: 1936 findet die Olympiade, veranstaltet von den Nationalsozialisten, in Berlin statt. Roma und Sinti werden in das Zwangslager Berlin-Marzahn umgesiedelt, unter ihnen Otto Rosenberg.

Die Zwangsinternierung galt als eine notwendige Maßnahme, um Roma und Sinti aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Die Insassen dieses Lagers wurden von Ritter und Justin untersucht und begutachtet. Unter den 20 000 aufgrund ihrer Gutachtern in das Konzentrationslager Auschwitz deportierten Sinti und Roma ist 1943 auch Otto Rosenberg. Er überlebte Auschwitz, während seine Eltern, seine zehn Geschwister und 51 Mitglieder seiner Familie ermordet wurden.

Rosenberg kehrte nach dem Krieg und der Befreiung von Auschwitz 1945 in seine Heimat Berlin zurück. Er war der Vater von Marianne Rosenberg. Sein Überleben schenkt uns, so könnte man sagen, 1975 den von seiner Tochter gesungenen Song „Er gehört zu mir“...

Info
Dagmar Priepke, die ehemalige Leiterin der Heussenstamm-Galerie, ist mittlerweile Expertin für die Braubachstraße und bietet dort auch Führungen an. Mehr Infos finden Sie hier.


Foto: Die Gedenktafel in der Braubachstraße erinnert an die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. © Dagmar Priepke
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