Foto: Die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi © Harald Schröder
Gesicht der Stadt

Eva Szepesi

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Eva Szepesi hat den Holocaust überlebt. Ihre Lebensaufgabe ist, für alle zu sprechen, die nicht mehr sprechen können.

Eugen El /

Der zarte Baum muss noch gestützt werden. Wir sind in einer grünen Oase inmitten des Stadtteils, hinter dessen Häusern der ‚Ginnheimer Spargel‘ hervorragt: Eva Szepesi steht
im Garten ihres Wohnhauses im Dornbusch und erfreut sich sichtlich an den Blüten, die der junge Aprikosenbaum seit kurzem zeigt. „Ich liebe diese Aprikosen!“, sagt Szepesi.
Ein Leser ihres mittlerweile in siebter Auflage gedruckten Erinnerungsbuchs „Ein Mädchen allein auf der Flucht“ hat Szepesi den Baum geschenkt. Er symbolisiert ihre zunächst unbeschwerte Kindheit: „Wir haben mit meinem Bruder, meinen Cousinen, den Nachbarskindern unter dem Aprikosenbaum gespielt“, erinnert sich Szepesi an ihr Aufwachsen in Pesterzsébet, damals ein Vorort von Budapest.

Fotografien sind alles, was von ihrer Familie geblieben ist

Aus dieser Zeit stammt auch ein Schwarzweißfoto, das Eva Diamant, wie Szepesi bei ihrer Geburt 1932 hieß, als dunkelhaariges, etwa sieben- bis achtjähriges Mädchen
zeigt. Das Foto hütet Eva Szepesi in ihrer gemütlich eingerichteten Wohnung, ebenso wie die Fotografien ihres kleinen Bruders Tamás und ihrer Eltern. Diese Bilder erhielt Eva Szepesi gemeinsam mit ihrem Onkel im September 1945 in Pesterzsébet von der Nachbarin der Diamants. Sie sind, wie Eva Szepesi Jahrzehnte später mit letzter Gewissheit erfahren musste, alles, was von ihrer Familie und ihrer glücklichen Kindheit übrig geblieben ist.

1938 begann auch in Ungarn die systematische Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung. Als Jüdin wurde Szepesi in der Schule ausgegrenzt, aber auch von ihren besten Freunden und den Nachbarskindern, mit denen sie eben noch unter mdem Aprikosenbaum spielte: „Plötzlich waren sie anders.“ Über den dramatischen Abschied von ihrer Mutter im April 1944, die Flucht in die Slowakei mit ihrer Tante Piri, die Deportation ins Konzentrations und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und ihre Befreiung durch Soldaten der Roten Armee am 27. Januar 1945 sprach Eva Szepesi jahrzehntelang kaum, auch nicht mit Ehemann Andor und ihren Töchtern Judith und Anita.

Erst 1995 brach Eva Szepesi ihr Schweigen

Erst 1995 brach Eva Szepesi ihr Schweigen – vor jüdischen Jugendlichen erzählte sie auf einer von der Jüdischen Gemeinde Frankfurt organisierten Fahrt nach Auschwitz erstmals ihre Lebensgeschichte. Fortan trat Szepesi als Zeitzeugin in Schulen und Gedenkstätten auf, ihre Erfahrungen vermittelte sie zudem in Büchern, Theaterstücken und Dokumentarfilmen. „All die Kinder und Urenkel“, freut sich Eva Szepesi und zeigt auf eine Farbfotografie, auf der sie mit ihrer Familie im Berliner Reichstagsgebäude zu sehen ist.

Am 31. Januar 2024 sprach Szepesi bei der vom Deutschen Bundestag ausgerichteten Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus. „Täglich denke ich an meine ermordete Familie. Und ich frage mich oft: Wieso habe ich überlebt?“, sagte sie in Berlin. So sei ihre Lebensaufgabe geworden, „für alle die zu sprechen, die nicht mehr sprechen können“. Ihre persönliche Berufung, als Zeitzeugin zu wirken, um damit gegen den Antisemitismus aufzuklären, betonte Szepesi auch in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Ehrensiegels der Jüdischen Gemeinde am 10. März. Ihre höchste Auszeichnung sprach die Gemeinde Eva Szepesi „für ihr unermüdliches und bewegendes Engagement als Zeitzeugin sowie für ihren langjährigen Einsatz für das jüdische Leben in Frankfurt“ zu. „Es ist eine große Ehre und ein gutes Gefühl“, sagt Szepesi, auf die silberne Medaille blickend.

„Du sprichst für uns“, hatten ihr Schoa-Überlebende gesagt

Die 92-Jährige wirkt an diesem Nachmittag heiter, neugierig und nahbar. Die von der Jüdischen Gemeinde demonstrierte Wertschätzung berührt sie sichtlich. „Du sprichst für uns“, hätten ihr viele Schoa-Überlebende nach der Verleihung des Ehrensiegels gesagt. Als Eva Szepesi Mitte der 1950er-Jahre ihrem Ehemann Andor, der für die ungarische Handelsvertretung arbeitete, nach Frankfurt folgte, war die Jüdische Gemeinde noch sehr klein. Man sei auf gepackten Koffern gesessen, wirft Anita Schwarz ein. Als die jüngere Tochter der Szepesis 1964 geboren wurde, gab es zumindest schon einen jüdischen Kindergarten. Ihren 1993 verstorbenen Mann charakterisiert Eva Szepesi als „traditionell“: „An den Hohen Feiertagen ging man in die Synagoge.“

Für vieles andere blieb kaum Zeit: „Wir haben Tag und Nacht gearbeitet“, sagt Szepesi über die gemeinsame, zunächst im Westend ansässige Werkstatt für Pelzverarbeitung. 1971 gründeten Andor und Eva Szepesi das Fachgeschäft „Pelze am Dornbusch“. Seit über 30 Jahren führen Anita Schwarz und ihr Mann Ernst den traditionsreichen Familienbetrieb. In ihrer Wohnung lebt Eva Szepesi seit über 50 Jahren. Fühlt sie sich im Dornbusch zu Hause? Darüber habe sie bislang nicht nachgedacht, bekennt Szepesi – um die Frage dann vorsichtig zu bejahen: „Hier fühle ich mich geschützt.“ Früher ging sie gerne zur Kleinmarkthalle, um dort nach kulinarisch Besonderem Ausschau zu halten.

„Es ist unglaublich, was passiert ist“

Heute sei das zu beschwerlich, bedauert Szepesi. Auch auf den Klavierunterricht, mit dem sie ihre in Auschwitz erfrorenen Hände jahrelang in Form hielt, muss Eva Szepesi mittlerweile verzichten. Die ungeheuerlichen Dinge, die ihr vor über 80 Jahren widerfahren sind, mischen sich hin und wieder fast beiläufig ins Gespräch. „Es ist unglaublich, was passiert ist“, sagt Szepesi. Den Schülern, mit denen sie weiterhin unermüdlich spricht, wünscht Eva Szepesi ein friedliches und ruhiges Leben: „Und sie sollen nicht erleben, was ich erlebt habe.“ Jugendliche seien die Hoffnung, betont Szepesi. Jetzt blickt sie wieder auf den jungen Aprikosenbaum in ihrem Garten. Irgendwann wird er Früchte tragen. „Ob ich das erlebe? Vielleicht“, sagt Eva Szepesi. Sie wird diesen Baum sicher noch lange beim Wachsen begleiten.


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