Newsletter
|
ePaper
|
Apps
|
Abo
|
Shop
|
Jobs

Gelitin auf dem Rossmarkt

Mein Freund der Baum ist tot

Zwischen Skulptur und Aktion: Die Wiener Künstlergruppe Gelitin installiert am Rossmarkt einen Baum, der aussieht, als sei er gerade erst gefällt worden. Das wird für Diskussionen und besorgte Anrufer sorgen.
Vor sieben Jahren haben sie auf einem grünen Bergrücken im Piemont einen riesenhaften rosaroten Plüschhasen abgelegt, und wem die vier Künstler bis dato noch nicht bekannt waren, seit „Rabbit“, wie der Titel der Arbeit lautet, sind sie mit einem Schlag nicht nur gute, sondern auch berühmte Künstler. Doch schon seit ihrer Gründung 1992 sägen und rütteln Wolfgang Gantner, Ali Janka, Florian Reiter und Tobias Urban mit allerlei spektakulären Aktionen am ehernen Kunstgeschmack des Bildungsbürgers, begreifen Kunst entweder als hyperkünstliche Fremdkörper, als Gegenwelten zu dem, was man gemeinhin für „normal“ hält, oder als herzerfrischende, naive und oft versaute Spielereien. 2009 beispielsweise legten sie in einer Tokyoter Galerie einen gepflegten Zen-Garten an, aus dessen ordentlich geharkter Kiesfläche aber lugten teilweise entblößte Hintern oder ein Haarteil. Wie fleischgewordene Steine und Blüten, von Alltagsklamotten umkränzt, sahen sie aus und schlugen auf hinterhältige und dennoch feinsinnige Art einer traditionellen, geordneten Idee einen witzigen und assoziationsreichen Haken.

Am Abend des 13. November wird nun das Werk der vier Künstler enthüllt, das sie für den Rossmarkt vorgesehen haben. Es wird nicht ganz so deftig und sexualisiert sein wie andere Arbeiten von Gelitin. Es handelt sich um einen Baum, der nur vorgibt, gerade erst gefällt worden zu sein. Doch schon vor der Eröffnung echauffierte sich manch Bürgerherz und vermutete Frevel an der Natur. Ja, gefallene Bäume, darüber erregt sich die Frankfurter Seele - am Weihnachtsmarkt wird die lange Anfahrt des Gehölzes kritisiert (unökologisch), das Presse- und Informationsamt der Stadt hingegen weiß in schöner Regelmäßigkeit zu berichten, wann und wo in der Gemarkung Baumfällarbeiten anstehen. Soll ja niemand sagen, er hätte von nichts gewusst. Nun also eine unangekündigte und auch nur gespielte Baumfällaktion am Rossmarkt, eine begehbare Skulptur, „die der Betrachter nicht nur sehen, besteigen, sondern auch riechen kann“, so zumindest prophezeit es Tobias Urban.

Theoretisch sei es auch möglich, das Werk in Stücke zu sägen. Außerdem wissen wir, dass die Arbeit eine andere Richtung als die nahe stehenden Hochhäuser einschlägt, zudem ein sinnfälliges Gegenstück zu einer Weihnachtstradition darstellt und überhaupt: die Skulptur für den Rossmarkt formuliert eine Antithese zu der gängigen urbanen Besiedlungsgewohnheit.

Das Projekt Rossmarkt hoch drei geht mit der Arbeit von Gelitin in die vorerst letzte Runde. Zum dritten Mal haben sich Schülerinnen und Schüler aus Frankfurter Gymnasien mit dem schwierigen Platz auseinandergesetzt, seine Potenziale für eine Kunst im öffentlichen Raum ausgelotet und schließlich der Künstlergruppe Gelitin gegenüber anderen Bewerbern den Vorzug gegeben, dem eher langweiligen Platz einen anderen Akzent zu verpassen. „Der Rossmarkt ist in meinen Augen gut durchorganisiert, ein bisschen zu deutsch, mit einem etwas uninspirierten Denkmal“, urteilt Tobias Urban über die Anlage und ergänzt: „Aber wir machen keine Platzgestaltung, wir stellen dort ein Kunstwerk hin, das die Struktur kurzfristig vielleicht etwas verschiebt.“

Ein bisschen jedenfalls steht die Arbeit für den Rossmarkt in Verbindung mit ihrer jüngsten Galerieschau bei Green Naftali in New York, in der die Besucher per Knopfdruck Skulpturen von ihren Sockeln stürzen konnten. Ihr Titel hier: „The Fall Show“. Gelitin hat also ein ­Faible für das Skulpturale, das sie aber mit performativen Elementen, oft auch auf der Ebene der Sprache, zu ihrer ganz spezifischen und herzerfrischenden Kunstauffassung machen.

Für den wenig kunstaffinen Zeitgenossen klingen solche Projekte vielleicht schnell nach kultursubventionierter Blödelei oder Scharlatanerie. Doch wer die vier, die sich im Sommer 1978 in einem Kinder-Sommer-Camp kennengelernt haben wollen, wer die Arbeiten der Gelitins also auf kunsthistorische Anhaltspunkte durchdenkt, dem werden zuerst die Wiener Aktionisten rund um Hermann Nitzsch oder Otto Muehl einfallen. Hier wie dort fällt eine deftig zur Schau gestellten Körperlichkeit und die theatralisch-orgiastische Feierlichkeit auf. Doch von diesen trennt sie die schöne Ironie. Noch mal Tobias Urban: „Ich fühle mich der feministischen Kunst der 70er-Jahre verwandter, oder auch Donald Duck.“

Im vergangenen Oktober haben Gelitin für ein Kunstwerk, das in Sankt Lorenz am Donauufer bestehen soll, zu einem öffentlichen Nasencasting aufgerufen, um ihre geplante Skulptur der „Wachauer Nase“ umzusetzen. Leute kamen, es gab Bier und Würstl, und jeder hat einen Gipsabdruck seines Riechkolbens abgegeben. Wie aufgrund dieser bestechenden Materialfülle die wirklich schönste aller Nasen gefunden werden soll, bleibt eines der vielen Geheimnisse von Wolfgang Gantner, Ali Janka, Florian Reiter und Tobias Urban. Das jedenfalls ist noch eine Aktion, deren Entwicklung man im Auge behalten sollte.

Klar ist auch, dass die Künstler sich mit ihren Projekten über die Jahre eine eigene und sehr spaßige Welt erschaffen haben, zu der sie immer wieder den Betrachter einladen. Der darf dann darin herumspazieren, Kunstwerke vom Sockel heben, darf den vieren zusehen, während sie eine „Blind Sculpture“ erschaffen, indem sie mit Augenbinde allerlei Material zusammenschieben, verschrauben, verschmelzen. „Unsere Arbeiten sind vielleicht hässlich, manchmal auch langweilig, großzügig oder sexuell, aber ich finde sie weder obszön noch absurd. Ich mache Kunst, weil ich mich in der Kunstwelt bewegen kann, ohne mich wie ein Sonderling zu fühlen.“ Einem eher humorlosen Betrachter könnte es unter Umständen schnell anders gehen: Er fühlt sich vielleicht sonderbar in Anbetracht der neuen Rossmarkt-Skulptur. Doch wir haben ja Humor, gelle? 

>> Rossmarkt hoch drei
Kühlschrank, Bett, Tastatur von Gelitin, Eröffnung am 13.11., 18 Uhr, auf dem Rossmarkt

Eine Version dieses Artikels erschien zuerst im Journal Frankfurt vom 6. November 2012.
 
13. November 2012, 11.00 Uhr
gw/nil
 
 
Fotogalerie: Gelitin Rossmarkt hoch 3
 
 
 
Mehr Nachrichten aus dem Ressort Kultur
Das Jazzfest 2024 der Frankfurter HfMDK steht an. Der erste Jahrgang des neuen Masterstudiengangs Bigband spielt dort seine Abschlusskonzerte.
Text: Detlef Kinsler / Foto: Bigband-Konzert im ono2 © Laura Brichta
 
 
 
 
 
 
 
Ältere Beiträge
 
 
 
 
17. Mai 2024
Journal Tagestipps
Pop / Rock / Jazz
  • Max Prosa und Sascha Stiehler
    Brotfabrik | 20.00 Uhr
  • Sasha
    myticket Jahrhunderthalle | 20.00 Uhr
  • Kraan
    Das Rind | 20.00 Uhr
Nightlife
  • After-Work-Shipping-Tour
    Primus-Linie | 18.30 Uhr
  • The Classics
    Fortuna Irgendwo | 22.00 Uhr
  • Tom Settka's Tanzclub
    Nachtleben | 21.00 Uhr
Klassik / Oper/ Ballett
  • Tosca
    Hessisches Staatstheater Wiesbaden | 19.30 Uhr
  • Otello
    Oper Frankfurt | 19.00 Uhr
  • Otello
    Staatstheater Mainz | 19.30 Uhr
Theater / Literatur
  • Zucchini Sistaz
    Roßmarkt | 20.00 Uhr
  • Die Brüder Karamasow
    Schauspiel Frankfurt | 19.30 Uhr
  • Stoltze für Alle
    Volksbühne im Großen Hirschgraben | 19.30 Uhr
Kunst
  • Im Garten der Zufriedenheit
    Museum Angewandte Kunst | 10.00 Uhr
  • Otto Ritschl – Bilder der späten Jahre 1960–1976
    Kunsthaus | 11.00 Uhr
  • Art Quadriennale
    Kulturzentrum Englische Kirche | 19.00 Uhr
Kinder
  • Great Expectations
    Löwenhof | 19.00 Uhr
  • Das Senckenberg-Museum zu Gast – Naturwissenschaft zum Anfassen
    BockenheimBibliothek | 14.00 Uhr
  • Shakespeare in a Suitcase – Macbeth
    Hessisches Staatstheater Wiesbaden, Wartburg | 10.00 Uhr
Freie Stellen