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Foto: Unsplash/Jana Shnipelson
Foto: Unsplash/Jana Shnipelson

Freiheitskampf

Belarus erwacht

In Belarus kommt es seit Wochen zu Massenprotesten, denen Machthaber Aljaksandr Lukaschenko mit Gewalt und Folter begegnet. Die in Frankfurt lebende Weißrussin Victorya Ivanova* beteiligt sich am Freiheitskampf ihres Heimatlandes.
„Es gibt keine Freiheit ohne Opfer“, zitiert Victorya Ivanova aus John R. R. Tolkiens berühmtem Werk „Der Herr der Ringe“, das dieser Tage häufig im belarussischen Freiheitskampf angeführt wird. Seit fünf Jahren lebt die gebürtige Weißrussin in Frankfurt, an der hiesigen Universität studiert sie Wirtschaftswissenschaften. Ihren echten Namen möchte sie nicht in der Zeitung lesen, zu gefährlich sei die Situation derzeit für ihre Familie, die noch immer in Minsk, der Hauptstadt Belarus’ lebt. Seit den Präsidentschaftswahlen am 9. August 2020 beherrscht das kleine Land,
das an Polen, Litauen, Lettland, Russland und die Ukraine grenzt, die internationalen Schlagzeilen.

Keine zehn Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählt Belarus. 1922 gehörte das Land zu den vier Republiken, aus denen die Sowjetunion hervorging. Mit dem Zerfall der UdSSR im Jahr 1991 kam die Unabhängigkeit, seit 1994 regiert Präsident Aljaksandr Lukaschenko als „letzter Diktator Europas“ Weißrussland. Im August 2020 wurde er vom Volk in seinem Amt bestätigt – so behauptet er es zumindest. Schon die vier vorherigen Wahlen galten als Scheinwahlen; auch diesmal soll das Ergebnis manipuliert worden sein, Gegenkandidatinnen und -kandidaten wurden im Vorfeld bedroht und teilweise festgenommen. Besondere Aufmerksamkeit erregte die Entführung und Inhaftierung der Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa kurz nach den Präsidentschaftswahlen. Sie berichtete unter anderem von Morddrohungen gegen ihre Person durch die Polizei und den weißrussischen Geheimdienst KGB.

Die Proteste der Bevölkerung gegen Lukaschenko lassen nicht nach: Nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses gingen allein in Minsk über 100 000 Menschen auf die Straßen, in den nachfolgenden Wochen bildeten sich immer wieder Massenproteste im ganzen Land. Mehrfach kam es dabei zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen der Polizei und den Demonstrierenden, inzwischen ist auch das Militär im Einsatz. Tausende Menschen wurden verletzt, einige sogar getötet, die Gefängnisse quellen über mit bei den Demonstrationen Festgenommenen. Es kursieren Berichte über Gewaltandrohungen und brutale Folterungen.

Folter und Vergewaltigungsdrohungen

Auch Victorya Ivanova ging in Minsk auf die Straßen. Gemeinsam mit Freunden und Familienangehörigen demonstrierte die 27-Jährige gegen den Machthaber Aljaksandr Lukaschenko und für ein neues Belarus. Seit ihrer Rückkehr nach Frankfurt nimmt sie regelmäßig an den deutlich kleineren, aber doch lauten Protesten vor dem Römer teil. „Ich liebe mein Heimatland, aber die Situation in Weißrussland ist nicht länger tragbar“, sagt sie. Nach Deutschland kam sie, weil ihr in Belarus die Perspektive fehlte. Zwar studierte sie an einer der renommiertesten Universitäten des Landes Finanzmanagement, eine Karriere erschien der zielstrebigen jungen Frau dennoch unerreichbar in dem Land, in dem selbst hochqualifizierte Ingenieure Zweit- und Drittjobs benötigen, um die Familie ernähren zu können. „Es war eine schwierige Entscheidung“, sagt Victorya Ivanova über den Umzug nach Frankfurt. „Ich vermisse meine Eltern, ich vermisse Belarus. Aber ich möchte mich weiterentwickeln – und das kann ich unter den derzeitigen Bedingungen nicht in meiner Heimat.“
Das laut auszusprechen, ist gefährlich. Nachdem sie Bilder von der Demonstration in Minsk mit ihrer Mutter über den Messengerdienst Whatsapp ausgetaucht hatte, so berichtet die junge Frau, hätten Unbekannte ihre Familie kontaktiert und bedroht. Ihr selbst sei mit Vergewaltigung gedroht worden. Schon im Vorfeld unseres Gesprächs bittet Victorya Ivanova daher darum, möglichst keine verräterischen Whatsapp-Nachrichten zu schicken – das Risiko, dass der belarussische Geheimdienst mitliest, sei zu groß. Dass sie inzwischen wieder in Deutschland ist, sei da auch kein Schutz. Schon die Ausreise aus Belarus habe sich schwierig gestaltet: Während alle anderen Fluggäste die Kontrolle problemlos passieren konnten, sei Victorya Ivanova auffallend gründlich kontrolliert, ihre Personalien separat aufgenommen worden. Wann sie wieder in ihr Geburtsland reisen kann, ist derzeit nicht absehbar.

„Luxusgut Demokratie“

Dem Widerstand vor Ort nicht beiwohnen zu können, nagt an der Studentin: „Ich sollte dort sein, ich sollte kämpfen. Menschen werden verprügelt oder sogar ins Gefängnis geworfen, weil sie ihre Meinung äußern. Journalisten und Demonstrierende müssen um ihr Leben fürchten.“ Bei ihrem letzten Besuch in Minsk wurde Victorya Ivanova selbst Zeugin der radikalen Repression, mit der die Regierung gegen kritische Stimmen vorgeht. In einem privaten Krankenhaus sah die junge Frau die Misshandelten und Verletzten aus dem berüchtigten Okrestina-Gefängnis, das spätestens seit den aktuellen Massenprotesten ein Symbol für Gewalt und Folter ist. „Dort wurden im Innenhof die Inhaftierten zusammengetrieben, die Videos kursieren bei Telegram“, berichtet Ivanova, „sie wurden geschlagen und angeschrien, und ich möchte mir gar nicht vorstellen, was mit den Frauen gemacht wurde. Die Bilder werde ich niemals vergessen können.“ Eine Zeitlang habe sie unter Albträumen und Panikattacken gelitten, sagt Victorya Ivanova. Die Ereignisse in ihrer Heimat machten sie zutiefst betroffen. „Was wird mit unserem Land gemacht?“

Dass die Proteste trotz der Bedrohungen durch Lukaschenkos Schergen weiter anhalten, sei, so Victorya Ivanova, das Zeichen dafür, dass „Belarus endlich aufgewacht ist“. „Viele Jahre war die Bevölkerung ohnmächtig gegenüber den militärischen Strukturen und dem Regime Lukaschenkos. In unserer Kultur herrschte lange die Einstellung vor: ‚Was mich nicht betrifft, geht mich nichts an’. Familie, Kartoffeln, Wodka und Brot waren alles, was die Menschen interessierte, Politik dagegen gar nicht“, sagt die Wahl-Frankfurterin mit liebevollem Spott in der Stimme. „Meine Eltern sind in der Sowjetrepublik aufgewachsen. Damals galten andere Werte und die Möglichkeiten sind nicht mit den heutigen vergleichbar.“

Doch die Zeiten haben sich geändert. Während die Generation von Victorya Ivanovas Eltern kaum Zugang zu Bildung oder westlichem Gedankengut hatte, sind die jüngeren Weißrussen sehr gut ausgebildet, an Politik interessiert – und nicht länger bereit, auf das „Luxusgut Demokratie“, wie Ivanova es nennt, zu verzichten. Eine Einstellung, die nicht selbstverständlich gewachsen ist, war doch auch ihre Generation während der Schulzeit andauernder Propaganda ausgesetzt; jede Diskussion sei im Keim erstickt worden, „erst in Deutschland habe ich gelernt, in verschiedene Richtungen zu denken.“ Die aktuellen Proteste sind freilich kein reines Jugend-Phänomen; Seite an Seite stehen Menschen jedes Alters und aus den verschiedensten Einkommensklassen auf der Straße und fordern lautstark den Rücktritt des Machthabers.
Weiß-rot-weiß

Solidarität ist das Schlagwort der Stunde. In der Krise haben die Weißrussen zu einem nie gekannten Gemeinschaftsgefühl gefunden. „Die Menschen gehen gemeinsam auf die Straßen und kämpfen für ihre Freiheit“, sagt auch die Frankfurter Studentin. Sei es in Minsk oder bei den kleineren Demonstrationen in Frankfurt – überall zeigen die Demonstrierenden deutlich ihre Abneigung gegen das Lukaschenko-Regime. Weit sichtbares Zeichen hierfür sind die weiß-rot-weißen Flaggen, die dieser Tage durch die Straßen wehen und bei den Demonstrationszügen hochgehalten werden („Das Rot steht für das Blut, das wir im Kampf vergießen, aber auch für die Liebe und Mut. Das Weiß symbolisiert Reinheit, Hoffnung und Unschuld“, erklärt Victorya Ivanova.).

Einst war dies die Nationalflagge des Landes; mit dem Übergang in die UdSSR wurde eine rot-grüne Flagge mit Stern, Hammer und Sichel eingeführt. Nach dem Untergang der sozialistischen Sowjetunion kehrte zunächst auch die weiß-rot-weiße Flagge zurück; mit dem Referendum von 1995, das Aljaksandr Lukaschenko praktisch die totale Macht sicherte, ging jedoch auch ein Rückschritt in Richtung des Sozialismus einher, was sich wiederum in einer erneut rot-grünen Nationalflagge zeigte.

Ein Volk

Victorya Ivanova geht weiterhin in Frankfurt demonstrieren: „Wir brauchen die Unterstützung seitens Europas. Ich kann verstehen, dass Deutschland und die übrigen EU-Staaten vorsichtig vorgehen möchten – die ganze Situation ist ein hochexplosives Pulverfass. Aber über kurz oder lang brauchen wir Hilfe, beispielsweise, indem die Visa-Hürden herabgesetzt werden.“

Auch zahlreiche Politikerinnen und Politiker fordern, dass Deutschland den Druck auf Lukaschenko erhöht. „Die EU darf nicht zulassen, dass das skrupellose Machtsystem Lukaschenko seinen Betrug und den Terror an der belarussischen Gesellschaft fortführt“, sagte die aus Frankfurt stammende Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und stellvertretende FDP-Parteivorsitzende Nicola Beer anlässlich des EU-Sondergipfels zur Krise in Belarus Mitte August. Die EU müsse einen Solidaritätsfond für die derzeit von der wirtschaftlichen Krise betroffenen Belarussen einrichten, außerdem müsse die Anhörung der Oppositionsführerin Swetlana Ti-chanowskaja ermöglicht werden, so die Forderung der FDP-Politikerin, die auch einer der Demonstrationen am Römer beiwohnte.

Ein Zeichen der Solidarität, für das Victorya Ivanova und ihre Mitstreiterinnen dankbar sind. Ebenso wie für die Opfer, welche die belarussischen Oppositionellen derzeit bringen. „Valery Tsepkalo, Maria Kolesnikowa, Swetlana Tichanowskaja – das sind unsere Heldinnen und Helden“, sagt Ivanova. „Sie haben uns geholfen, wieder ein Volk zu sein, das gemeinsam für eine Sache kämpft.“


*Name von der Redaktion geändert

>> Dieser Text ist zuerst in der Ausgabe 10/2020 des JOURNAL FRANKFURT erschienen.
 
19. Oktober 2020, 11.28 Uhr
Ronja Merkel
 
Ronja Merkel
Jahrgang 1989, Kunsthistorikerin, von Mai 2014 bis Oktober 2015 leitende Kunstredakteurin des JOURNAL FRANKFURT, von September 2018 bis Juni 2021 Chefredakteurin. – Mehr von Ronja Merkel >>
 
 
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