Zwischenruf von Jürgen Bothner

Streiken wir zu viel?

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Für faire Arbeitsbedingungen muss man kämpfen, wenn nötig auch mit dem Mittel Streik. Sonst wären alle Forderungen ja bloße Bettelei, findet Jürgen Bothner, Landesbezirksleiter von Verdi Hessen.

Jürgen Bothner /

Stellen Sie sich mal vor, Hunderte Gewerkschafter streiken und keiner bekommt was davon mit. Wochenlang. Unmöglich, sagen Sie? So ist es aber gewesen. In Schleswig-Holstein, in einer Metallfabrik, zugegebenermaßen in den 60er Jahren und damit in einer medienmäßig noch viel langsameren Zeit. Die Metall-Kollegen streikten für Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Die ist uns heutzutage selbstverständlich, musste aber hart erkämpft werden, genauso wie viele andere scheinbare Selbstverständlichkeiten. Das Urlaubsgeld, das 13. Monatsgehalt, Lohnerhöhungen, leistungsgerechte Bezahlung, all das fällt leider nicht vom Himmel. Ganz im Gegenteil. Alles Verhandlungssache.

Löhne sollen nicht politisch diktiert werden, so wollte es der Gesetzgeber. Der Arbeitgeber hat das Geld und der Beschäftigte die Arbeitskraft. Um seinen berechtigten Forderungen nach mehr Geld auch Nachdruck verleihen zu können, gab der Gesetzgeber dem Arbeitnehmer das Mittel des Streiks an die Hand. Sonst wären seine Forderungen ja bloße Bettelei. Es soll ja auch wehtun. Sonst bewegt sich nichts. Ja, Streiks tun weh. Ganz besonders schmerzhaft sind sie im Dienstleistungsbereich. Wenn kleine Kinder nicht in die Kita können, Flugzeuge mangels Kontrolle nicht starten, Briefe und Pakete liegenbleiben, die Mülltonne ungeleert bleiben. Obwohl in Deutschland statistisch viel weniger gestreikt wird als anderswo in Europa. Viele konzentrieren sich zu sehr auf die Auswirkungen und fragen leider viel zu wenig nach den Anliegen der Streikenden. Und noch viel weniger betrachten sie den großen gesellschaftlichen Zusammenhang.

Die Geiz-ist-Geil-Mentalität macht es uns Gewerkschaften immer schwerer, spürbare Gehaltserhöhungen für unsere Mitglieder zu erzielen. Immer öfter geht es bei Tarifverhandlungen darum, bereits Erkämpftes zu verteidigen. Der Tarifvertrag am Ende einer solchen Auseinandersetzung bringt den Sozialpartnern Rechtssicherheit. Arbeitgeber wie Arbeitnehmer wussten das jahrzehntelang zu schätzen. Doch die Tariflandschaft bröckelt und immer mehr Unternehmen verabschieden sich aus sozialer Verantwortung alten Stils und blasen zum Kampf. Bei der Post erleben wir das grade. Ihr geht es wirtschaftlich blendend. Sie will aber einfach niedrigere Löhne zahlen, denn die Aktiendividende soll steigen. Machen wir Gewerkschaften das nicht mit, dann werden alle Gepflogenheiten über Bord geworfen: keine unbefristeten Festanstellungen mehr, Schaffung einer parallelen Billiglinie, ungesetzliche Sonntagsarbeit, Einsatz von Streikbrechern und vieles mehr.

Erfreulicherweise erfindet Gewerkschaft sich auch immer wieder neu. Der Sozial- und Erziehungsdienst lebt es uns grade vor. Von dem Wunsch nach Aufwertung getragen, hat sich hier eine Bewegung gebildet, nachdem jahrzehntelang in diesem Bereich nichts passiert ist. Sie ist bunt, sie ist kreativ. Aufwertung jetzt.

>> Der Zwischenruf erscheint am Dienstag, 30. Juni, auch in der gedruckten Ausgabe des JOURNAL FRANKFURT. Diskutieren Sie mit!


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