Ein Buch, zumal ein wissenschaftliches, ist nicht eben ein theatraler Gegenstand. Und doch haben Helgard Haug und Daniel Wetzel von der Gruppe Rimini Protokoll Karl Marx' "Das Kapital. Erster Band" zum Anlass einer Inszenierung genommen. Wie stets operieren die beiden Theatermacher mit Laiendarstellern, die Spezialisten ihres Faches sind, und mit deren persönlicher Lebensgeschichte. Eine Inszenierungsstrategie, mit der sie sich in den letzten zwölf Jahren von der Probebühne des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen bis auf die Bühnen von Stadttheatern hochgespielt haben. Bereits zweimal waren sie beim Berliner Theatertreffen zu Gast, "Das Kapital" wurde zu den diesjährigen Mühlheimer Theatertagen eingeladen. Es ist eine Koproduktion vom schauspielfrankfurt, dem Schauspielhaus Zürich, dem Düsseldorfer Schauspielhaus und dem HAU Berlin. Die Indienstnahme 'freier' Theatermacher und ihrer zumeist günstigeren, flexibleren Produktionsweisen ist in den letzten Jahren zu einer gern gewählten Möglichkeit der Stadt- und Staatstheater avanciert, ihren Spielplan zu verjüngen, zu durchmischen und zu aktualisieren. Ob dies allerdings ein für alle Seiten dankbares Verfahren ist, darf bezweifelt werden. Gestern zeigte sich einmal mehr, dass ein jüngeres Publikum sich angesprochen fühlte.
Auf der Bühne des Kleinen Hauses versammelten sich die Übersetzerin Franziska Zwerg, die unter anderem eine Jelzin-Biografie ins Deutsche übersetzt hat, der lettische Filmemacher Talivaldis Margevics, der Wirtschaftswissenschaftler und Kapital-Kenner Thomas Kuczynski (Foto), der blinde Christian Spremberg, Ulf Mailänder, Autor und Coach, Koautor der Biografie des genialen Betrügers Jürgen Harksen, Jochen Noth, ehemaliger Maoist, Geisteswissenschaftler und langjähriger Redakteur bei Radio Peking in China sowie Ralph Warnholz, Elektrotechniker und ehemaliger Spielsüchtiger und Sascha Warnecke, der sich selbst als Revolutionär bezeichnet und vor zwei Jahren die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend wieder neu gründete.
Vor der hohen Bühne aus Bücherregalen und Schränken, in denen unter anderem ein Strauß roter Nelken, Marx-Büsten und diverse Ausgaben des Kapitals versammelt sind, werden Episoden aus acht Lebensgeschichten zum Gegenstand, die um Widerstand und Erkenntniswillen, aber auch die ebenso spielerischen wie verführerischen Möglichkeiten des Kapitalismus' kreisen. Geld, das zeigt nicht allein die Geldscheinverbrennung von Jochen Noth, die Anlagebetrügerei von Jürgen Harksen und die Spielsucht von Ralph Warnholz, ist und bleibt eine abstrakte Größe. Auf der Bühne wurde der Kapitalismus selbst, das Tauschgeschäft zur Ware, mit dem gehandelt wurde, mehr oder minder geschickt, mit seinen bitteren und süßen Auswüchsen. Zeitweise klang dieses Lied vom Ende des Kommunismus nach verniedlichender Ostalgie, zeitweise hauchten die Akteure ihm beklemmend greifbar Leben ein. Das Publikum war vom ersten Moment an auf ihrer Seite: Wellen der Sympathie wogten zwischen Zuschauersaal und Bühne, der Laiendarstellerschaft gelang innerhalb kurzer Zeit, was im Schauspiel heute eine Seltenheit ist: Identifikationsflächen zu schaffen, auf denen jeder einen Brocken seiner selbst wieder zu erkennen schien.