Wie entstehen Wahrheiten? Durch philosophische Gedankenblasen im Frankfurter Stadtraum? Das wäre eine Option, doch würde sie das Fortkommen unserer Kolumnistin recht rasch behindern. Nein, die Antwort liegt in hoher Luft.
Ana Marija Milkovic /
Wenn ich über die Straße gehe, fallen mir viele Themen ein. Etwa an der Stresemannallee in unmittelbarer Nähe zur Friedensbrücke. Dort rege ich mich besonders gerne auf und schreibe in Gedanken Briefe, die ich an den Verkehrsdezernenten adressiere. Ich beginne freundlich, um mich schließlich in unflätigen Beschimpfungen zu ergehen.
An der Stresemannallee verbleiben die vielen nicht abgeschickten Seiten. Ich stelle mir dann vor, wie es wäre, diese vielen Gedanken mit einer neu konstruierten Brille zu erkennen. Einer Brille, die erfunden worden wäre, um den städtischen Raum mit Sprechblasen auch für dritte sichtbar zu füllen. Die Blasen wären reichlich und würden jegliches Fortkommen verhindern. Dessen bin ich mir sicher. Ich würde wahrscheinlich jetzt noch an der Friedensbrücke feststecken.
Ich hatte kürzlich Besuch. Eine meiner Freundinnen wurde von den anderen Gästen gefragt, was sie beruflich macht. Sie sagte, sie sei Philosophin. Das fand ich schön. Viele Sprechblasen füllen seither den Raum, während ich durch die Stadt spazieren gehe. Ich formuliere Plädoyers für Philosophen. Sind es nicht aber die Eltern, die darauf wertlegen, dass ihre Kinder einen nützlichen und lukrativen Beruf erlernen? Womit ich beim eigentlichem Thema angekommen bin: Was ist die Wahrheit noch als soziales Konstrukt in unserer gesellschaftlichen Wahrnehmung wert?
Stellen wir uns das mittlere bis obere Management und die Politik als einen Ort vor, an dem durch Fakten und nicht etwa aus Gründen der Macht zum Wohle der Mitarbeiter und Bürger entschieden würde. Das wäre gerechter als „ich bevorzuge das, und ich bin in einer mächtigeren Position, also muss ich leider auf meiner Wahrheit bestehen“. So ungefähr beschrieb ein Philosoph in einem Interview die Denkweise, wenn Wahrheit konstruiert wird.
Wahrheit, las ich dort, wird abgeschafft, wenn sie nach den eigenen Bedürfnissen formuliert und relativiert wird. Das betrifft auch Tatsachen, die wir zu beschreiben versuchen, wenn es um die Darstellung der Realität geht. Radikale Konstruktivisten aber lehren seit 30 Jahren an den Universitäten, dass es keine Wahrheit gibt.
Der amerikanische Präsident bedient sich dieser Sichtweise. Das zeigt, wohin die Annahme, es gäbe nicht nur die eine Wahrheit, führen kann. Erfunden hat er diese Denkweise nicht. Die Diskussion um Dieselkraftstoffe zeigt sehr gut, wie in der Wirtschaft an der Wahrheit manipuliert wird, wenn Tatsachen negiert werden.
Gestern rief ich in der Redaktion der Philosophie-Zeitschrift 'Hohe Luft' in Hamburg an. Ich fragte nach dem Interview in der vorherigen Ausgabe mit dem Philosophen. Es ginge um die Wahrheit, auch um Fake News, setzte ich nach. Meine Gesprächspartnerin wusste, wonach ich suchte. "Wo ist die Wahrheit hin, Herr Boghossian?" sagte sie. Genau, antwortete ich. Ich empfehle Ihnen, das Heft zu lesen. Es lohnt sich. Es geht um die Wahrheit.