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Foto: The Critics Company, One Can Only Hope and Wonder, 2023, film still
Foto: The Critics Company, One Can Only Hope and Wonder, 2023, film still

The Critics Company

Der anhaltende Konflikt um Kolonialismus erhebt immer wieder sein hässliches Haupt

Mirrianne Mahn ist Beraterin der aktuellen Ausstellung im Zollamt des Museums für Moderne Kunst. Für das JOURNAL FRANKFURT hat sie ihre Gedanken aufgeschrieben.
Ausstellungeröffnung im Zollhaus des MMK. Als Ausschussvorsitzende für Kultur, Wissenschaft und Sport bin ich zu der Eröffnung eingeladen, als Beraterin für diversitätsorientierte Kulturarbeit war ich bereits im Vorfeld involviert. Susanne Pfeffer, Direktorin des MMK, kontaktierte mich. Bilder, die provozieren, können für andere eine Retraumatisierung bedeuten. Bilder, die schocken, können auch eine Reproduktion des kolonialistischen Blicks auf Afrika und auf Schwarze Körper erzeugen.

Susanne Pfeffer hört zu, will die Druckerzeugnisse richtig machen. Keine gesichtslosen Schwarzen Körper, keine passiven Opfer. Nein, aktive Akteur*innen will sie zeigen. Sie korrigiert die Einladungen. Auf die Frage, wie sie dazu kommt, fünf junge Männer aus Kaduna nach Frankfurt zu holen, antwortet sie: „Die Qualität der Kunst“. Ich stimme zu.


THE CRITICS COMPANY behandelt das Trauma und den Kampf um gestohlene Kunst und Kultur aus Afrika


Das Künstlerkollektiv The Critics Company behandelt das Trauma und den Kampf um gestohlene Kunst und Kultur aus Afrika sowie die Auswirkungen auf die nachkommenden Generationen. Der Titel der Ausstellung und die Frage, die sie stellen, lautet: ONE CAN ONLY HOPE AND WONDER. Ein 15-minütiger Film ist das Herz der Ausstellung. Er ist ausdrucksstark. Verstört und bewegt.

Die nigerianische Künstlergruppe The Critics Company, bestehend aus Godwin Gaza Josiah, Victor Josiah, Raymond Yusuff, Richard Yusuff und Ronald Yusuff, gründete sich 2015 in Kaduna. Für ihre allererste Ausstellung hat sie eigens für das ZOLLAMTMMK eine neue Arbeit geschaffen. Auf die Frage, ob die Ausstellung nur für Frankfurt ist, antworten sie, „nein für die Welt“. Ich ziehe mich mit den jungen Männern in eine Ecke zurück. Möchte von ihnen wissen, was ihre Motivation war, woher sie den Mut nehmen, ein so schmerzhaftes Thema künstlerisch aufzuarbeiten und dies dann auch noch in einem der weltbekanntesten Museen der Welt auszustellen. Im Herzen von Europa – in Frankfurt.

Godwin erklärt mir, dass er von „diesen Beninbronzen“ gehört habe, für dessen Rückgabe seine Regierung kämpft. Dass die Qualität von Kunst daran gemessen wird, was der europäische Blick zur Kunst sagt. „Wo bleibt deren Sichtbarkeit und wie schaffen wir es, Kunst für sich allein stehen zu lassen und sie nicht nach westlichen Standards zu werten?“
Seit 2018 steht die Restitutionsdebatte wieder ganz oben auf der politischen Agenda. Während dieser Diskurs weltweit Aufmerksamkeit erlangt, läuft er jedoch auch Gefahr, institutionalisiert und vereinfacht zu werden. Die Machtverhältnisse scheinen sich langsam zu verlagern, da westliche Staaten die Notwendigkeit, ihre Sammlungen zu überprüfen und zurückzugeben, nicht mehr von sich weisen können.

An ihren Ursprungsorten hat die Abwesenheit der Objekte traumatische Spuren hinterlassen. Die psychologischen Dimensionen des Verlusts von Kulturgütern werden sichtbar, wenn etwa die Ausstellung der Objekte in Afrika dem Vorbild westlicher Museen folgt.


Junge Menschen aus Kamerun haben kein Anrecht auf ein Visum – Ihre Kunst und Kultur sind willkommen, sie nicht


Ähnlich wie die Künstlergruppe, die für einige Wochen in Deutschland ist und damit die erste Möglichkeit hat, die berühmten Beninbronzen ihrer Vorfahren zu sehen, ging es mir, als ich das erste Mal in München den Blauen Pfahl aus Kamerun sah. Hinter Glas, gut ausgeleuchtet, von einer blonden Kuratorin, die mir ihre Interpretation über die Bedeutung dieses Kunstwerkes nahebrachte. Kamerunische Kinder und nigerianische Kinder haben nicht dieses Privileg. Die Kulturgüter, die ihre Geschichte in sich tragen, sind verschlossen und unerreichbar in den europäischen Museen, Kunstwerke, dessen Wert von Weißen festgelegt wurde, die ebenfalls festgelegt haben, dass diese jungen Menschen kein Anrecht auf ein Visum haben. Ihre Kunst und Kultur sind willkommen, sie aber nicht.

Welcher Zugang muss zu Archiven gegeben sein, damit die Betroffenen an den Prozessen teilhaben können? Im Gespräch mit Deborah Johnsson sagt einer der Künstler Raymond Yusuff: „Obwohl ich in Nigeria aufgewachsen bin, spürte ich wie viele andere um mich herum, dass ich nicht mit meiner Kultur im Einklang bin. Viele von uns wussten nicht, wie wir hierhergekommen sind, was unsere Geschichte ist und wer genau die Menschen waren, die vor uns lebten. Nicht zu wissen, warum man so tickt, wie man tickt, ist ein ziemlich gefährlicher Zustand.“

Ein Kampf gegen Windmühlen – Ähnlich wie der Kampf afrikanischer Länder für die Rückgabe ihrer Kunst


Raymond weist mich auf die Installation an der Decke hin. Ich erkenne kleine Kohlbecken. Sie hängen von der Decke. Sie glühen und spenden Licht in dem dunklen, knallroten Raum, in dem Bildschirme tanzende, Schwarze Körper zeigen, die in einer endlosen Zeitschleife feststecken. Unfähig diesem Kreislauf zu entgehen. Unfähig auszubrechen und in die Zukunft zu blicken. Ein Kampf gegen Windmühlen. Ähnlich wie der Kampf afrikanischer Länder für die Rückgabe ihrer Kunst. Ihrer Kultur. Ihrer Geschichte.

Er erklärt mir, dass die wenigsten Menschen wissen, dass Europäer im Königreich Benin das erste Mal Straßenlaternen sahen. Kohlebecken, die die Straßen des einst so mächtigen Königreiches beleuchteten. Der Gruppe war es wichtig, auch dieser Tatsache einen Raum in ihrer Ausstellung zu geben.

Ich frage mich, ob die anderen Besucher*innen auch so sehr berührt sind von dieser Ausstellung. Ich frage mich, ob sie den Schmerz spüren, ob sie das Generationen-Trauma sehen, das die weiße Vorherrschaft über einen gesamten Kontinent gebracht hat. Verstehen sie, was diese Ausstellung mit ihnen persönlich zu tun hat?


Ich bin Nachfahrin genau jener Menschen, die Opfer des Kolonialismus waren


Ich schreibe diesen Artikel in einer gespaltenen Rolle. Zum einen bin ich eine deutsche Frau und sehe eine tiefe, dringliche Verantwortung darin, die koloniale Vergangenheit Deutschlands aufzuarbeiten. Ich bin der Meinung, dass wir alle eine Verantwortung darin tragen, die Fehler unserer Vorfahren wiedergutzumachen. So wie unseren Nachfahren die Aufgabe zukommen wird, unsere Fehler auszubügeln. Zum anderen bin ich in Kamerun geboren und Nachfahrin genau jener Menschen, die Opfer des Kolonialismus waren und es bis heute noch sind.

Wiedergutmachung für Völkermord scheint paradox: absolut notwendig und gleichzeitig unmöglich. Das Hauptziel des Wiedergutmachungsmechanismus ist es, denjenigen, die einen Verlust erlitten haben, dabei zu helfen, zu heilen und ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen. Wiedergutmachung ist eine Sühne für das, was meinen Ur-Ur-Ur-Großeltern und ihren Nachkommen widerfahren ist. Die Schrecken des Kolonialismus endeten nicht mit der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung. Die Auswirkungen von Trauma, Schmerz, Armut, Marginalisierung, Ausgrenzung usw. wurden von Generation zu Generation weitergegeben.


Wie können wir Massengrausamkeiten mit einer Zahl beziffern?


Das schwierige Dilemma bei der Wiedergutmachung in jedem Kontext ist: Wie können wir Massengrausamkeiten mit einer Zahl beziffern? Wer sollte eine Entschädigung erhalten und wer nicht? Wenn es darum geht, historisches Unrecht mit langanhaltenden Auswirkungen wiedergutzumachen, ist der Nachhall dieser Fragen sogar noch stärker; hier wird die objektive Realität auf subjektive Erfahrungen gestützt und häufig schätzen die Besitzenden das Leiden der Habenichtse falsch ein.

Nichtsdestotrotz sind dies Dilemmata, mit denen sich Deutschland und auch Frankfurt auseinandersetzen und reagieren muss. Der anhaltende Konflikt um Kolonialismus erhebt immer wieder sein hässliches Haupt, und ein Wandel wird nicht ohne bewusste Anstrengungen möglich sein. Wir können die gegenwärtigen Ungerechtigkeiten nicht ausgleichen, ohne die Vergangenheit aufgearbeitet zu haben. Wir können nicht über die politische und wirtschaftliche Entrechtung afrikanischer Gemeinschaften in der Gegenwart sprechen und gleichzeitig die Sklaverei der Generationen, Völkermorde und Verschleppungen und andere Grausamkeiten ignorieren - all das hängt miteinander zusammen.



Anerkennung ist Teil des Heilungsprozesses, nicht nur für Kamerun und Nigeria

Um 21 Uhr gibt es eine spontane Gesangseinlage von Godwin. Er präsentiert zwei Lieder, denn er macht auch Musik. Charismatisch und bescheiden spricht er darüber, wie surreal die Erfahrung ist. Der zweite Song heißt „Proud of you“, er widmet ihn sich selbst und seinen Brüdern. Aber auch Susanne Pfeffer.

Weil er stolz darauf ist, was sie geschafft haben. Er versucht den Anwesenden zu erklären, wo er herkommt und wo er jetzt ist. Ich verstehe seine Geschichte, denn irgendwie ist sie auch meine Geschichte. Die Songs sind Anerkennung, Teil des Heilungsprozesses, nicht nur für Kamerun und Nigeria selbstgeschrieben, ein Ausnahmetalent. Der Raum ist totenstill. Mühelos singt er über eine Welt, die nicht fair ist. Den Zuschauenden kommen die Tränen und auch ihm. Er singt über Heilung, Vergebung und Versöhnung. Darüber, dass wir geboren sind, um sein zu dürfen.

Bei der Wiedergutmachung geht es vor allem um Anerkennung für den ganzen Kontinent Afrika. Selbst, wenn die Bundesregierung morgen die erwähnten Wiedergutmachungsprogramme beschließen würde, wäre das nur ein Teil der Arbeit, die getan werden muss. Die Wahrheit muss an erster Stelle stehen. Im Zeitalter der Fake News und der in den sozialen Medien verbreiteten Verschwörungstheorien scheint die Wahrheit täglich zu schwinden.

Jeder rassistisch motivierte polizeiliche Vorfall, jedes Versäumnis in Sachen Gleichberechtigung vertieft den Schmerz in der Schwarzen Gemeinschaft


Ein Teil dieser Wahrheit besteht darin, dass jeder rassistisch motivierte polizeiliche Vorfall, jede Mikroaggression, jedes Versäumnis in Sachen Gleichberechtigung oder jeder Justizirrtum den Schmerz in der Schwarzen Gemeinschaft noch weiter vertieft und Narben, über Generationen hinweg, hinterlässt. Solange Deutschland nicht seine Vergangenheit begleicht, indem es seine Opfer entschädigt, bleiben die Ideen von Freiheit und Gerechtigkeit nur das: Eine Idee.

Die Wiedergutmachung des Unrechts, das meinen Vorfahren angetan wurde, bedeutet, dass ihre Geschichte zählt, dass ihr Leiden von Bedeutung ist, und – was noch wichtiger ist –, dass die Auswirkungen der Vergangenheit auf ihre Nachkommen ebenfalls von Bedeutung sind.




Mirrianne Mahn © Sammy Hart

„Doch die Weisen haben sich für die Zukunft entschieden. Sie werden ihre Tränen zum Malen verwenden. Sie werden verrückt werden und etwas Neues schaffen.“
—Emose in One Can Only Hope and Wonder, 2023
 
4. April 2023, 08.22 Uhr
Mirrianne Mahn
 
 
Fotogalerie:
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