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Foto: Harald Schröder
Foto: Harald Schröder

Kolumne von Ana Marija Milkovic

Angst essen Seele auf

Unsere Kolumnistin hat einen Sehnsuchtsort, ja eine Sehnsuchtszeit: die Bonner Republik mit all ihrem Gelsenkirchener Barock. Das wird natürlich besonders klar im Angesicht des Todes von Helmut Schmidt.
Wenn Angela Merkel heute sagt, es sei eben nicht ihr Deutschland, denke ich, vielleicht hat sie recht. Wie kann es auch ihr Deutschland sein, kann sie wissen, wessen gesamtdeutsches Land sie vorsteht? Angela Merkel wurde nicht im Westen sozialisiert. Sie kennt die Träume und Ängste nicht, die Menschen jenseits der Mauer hatten.

Westdeutsche trugen Stulpen bis zu den Knien, toupierte Haare und hatten die Zukunft vor sich. Die APO, die Energiekrise, nichts vermochte den Glauben an die Republik indem Maße zu erschüttern, als dass ein Bundeskanzler hätte predigen müssen "Wir schaffen das" und das ohne Notfallplan. So stellten Wessis sich die Diktatur vor.

Irgendwann schwappte die Neue Deutsche Welle im Westen über. Hubert K besang den Sternenhimmel. Ideal langweilte sich in der Südsee. Studieren konnte im Westen jeder und so lange er wollte. Ein Ingenieur war mitnichten ein Bachelor. Künstler waren unbequem. Beuys ließ sich nicht im Querformat über's Sofa hängen.

Westdeutsche hatten Fassbinder und Helmut Dietl. Aufeinanderfolgend hielten sie der Gesellschaft den Spiegel vor. So eng die Welt der Westdeutschen war, Raum für messerscharfe Beobachtung blieb. Es wurde laut gedacht, gestritten, ausprobiert, bekämpft. Für alles gab es auch Geld. Arbeiterkinder wurden zu Studierten. Heute sind Studierte Praktikanten und Größen wie Helmut Dietl endeten im Hartz IV.

Der westdeutschen Biederkeit, auch Gelsenkirchener Barock genannt, stand eine Nonchalance entgegen, die inmitten von eigentümlichen Volkstum auch heftig brillierte. Fernsehen war Bildungsfernsehen und es gab ein sehenswertes drittes Programm. Talk Shows waren nicht leidig unterhaltsam, eine Schöneberger hieß damals Lea Rosh und verstand nicht nur ihre Haare zu frisieren sondern auch zu diskutieren. Solange Harry den Wagen holte, blieb Westdeutschen genügend Zeit erwachsen zu werden.

Die Bundeskanzler residierten nicht in einer Villa, sondern im Bundeskanzlerbungalow, erbaut vom Architekten Sep Ruf. Das Westdeutsche Parlament tagte im Wasserwerk. Dort wurden politische Debatten von Politikern ausgetragen, die sich auch darauf verstanden in einer Sache ordentlich und unterhaltsam vorzutragen. Das Bundeskanzleramt wurde von dem Architekten Behnisch erweitert. Es hieß, er vertrete das demokratische Bauen. Zu was dieses Bauen auch später verkam, anfangs hielt es ein Versprechen. In Berlin bauen sie heute wieder feudale Strukturen wieder auf.
Politisches Kabarett war keine Comedy.

Es war ein Lach- und Schießgesellschaft. Ich denke dabei an Dieter Hildebrandt, an Werner Schneyder und den Mann im Lotussitz: Wolfgang Neuss. Neuss beeindruckte noch betagt, verarmt, zahnlos mit seinem Verstand einen Richard von Weizsäcker. Fast alle sind heute tot. Niemand spricht mehr deutlich, niemand hat zu sprechen gelernt, alle kommen bereits zahnlos mit Hipsterbart zur Welt.

Nun ist ist der letzte Mohikaner gegangen. Lotse wurde er genannt. Helmut Schmidt ist tot. Er starb an einem Dienstagnachmittag. Ich traure um Helmut Schmidt und meine Heimat in Westdeutschland - wenngleich kein deutscher Politiker deutlicher Position für Ausländer bezogen hat als Willy Brandt.
Eine Quote brauchten Ostdeutsche nicht, um aufzusteigen. Sie haben im Fernsehen, in der Politik, in der Wirtschaft im Gegensatz zu Ausländern Karriere gemacht. Nun stehen an oberster Spitze unseres Landes zwei Menschen aus dem Osten. Bundespräsident Gauck und Bundeskanzlerin Merkel. Beide eint bis auf den Antikommunismus und ihr Herkunftsland nicht viel. Ihre Agenda schien dem Westen bis vor ein paar Monaten hinlänglich zu genügen. Hauptsache sie sind Antikommunisten. Dabei ging es ihnen in der Deutschen Demokratischen Republik sehr gut. Begleitete nicht Angela Merkel noch ihren zukünftigen Mann vor dem Mauerfall nach Amerika?

Heute, da Millionen Menschen Deutschlands Grenzen überrennen, bleibt Angela Merkel ihrer Geschichte treu. Sie verkennt dabei, dass die Mehrheit der Deutschen kein zweites Mal Bock darauf haben.

Das Land hat sich seit der Wiedervereinigung gesellschaftlich verhoben. Die Rente war vor 1991 sicher bis Ostdeutsche sie zum Nulltarif erhielten. Dann kam die private Lebensversicherung hinzu. Ursprünglich wurden Verträge gemacht, um sie einzuhalten. Heute sind Verträge das Papier nicht wert auf dem sie unterzeichnet werden. Seit 1991 verlor die alte Republik sukzessive das, was ihre Bürger auch mit Hilfe von Millionen Ausländern über Generationen aufgebaut haben: Das Vertrauen füreinander, in die eigene Zukunft sowie das Soziale in der Marktwirtschaft.

Angela Merkel ist kein Natural Born West Citizen, als dass sie den Westen verstünde und mit den Ostem zu vereinen. Pegida ist das sicherlich alles nicht. Von Existenzängsten Dritter scheint Angela Merkel nur über Deutschlands Grenzen hinweg zu erfahren. Deutschland zerfällt in Phrasen und Lager. Es fehlen Steuermann und Große Koalition.

Tschüss Helmut Schmidt, Du gute alte Welt.
 
12. November 2015, 11.07 Uhr
Ana Marija Milkovic
 
 
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