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Geklaute Weisheiten

... aber wahr sind sie eben doch.

Tach. Ich sitze hier, und ich wollte, es wäre Abend und ich könnte trinken – also denke ich mir, klauste doch mal was. Machen andere schließlich auch. Doch bei mir ist das was anderes. Wenn ich klaue, dann mit System und mit Verstand. Außerdem ist Klauen die höchste Form der Bewunderung. Ist auch nicht von mir, habe ich geklaut. Von wem, weiß ich nicht mehr. Den folgenden Absatz jedoch habe ich mir, na sagen wir mal „geliehen“, und zwar von einem Menschen messerscharfen Verstandes, den ich vor einiger Zeit kennenlernen durfte und mit dem ich dann und wann Schnaps trinken gehe und ihn bewundern. Es handelt sich um Matthias Altenburg, vielen auch bekannt als Jan Seghers. Matthias führt im Internet ein Tagebuch, das er „Geisterbahn“ nennt, und in dem er häufig über Dinge schreibt, von denen ich nichts verstehe (zum Beispiel über ungewöhnliche kriminalistische Begebenheiten) oder von denen ich nichts verstehen will (zum Beispiel über das Rennradfahren). Oft aber schimpft er, und das finde ich großartig. So unlängst, als er des Abends in der Frankfurter City ausgegangen war und tags darauf schrieb: „Aber alle diese verdammten Innenstadt-Dinger sind voll mit all diesen verdammten jungen Bankern und Maklern und Anwälten, die jeden Abend ihren Feierabend feiern müssen, die alle gleich aussehen mit ihren Brillen und Frisuren und Jacketts und die alle viel zu gut gelaunt sind und dauernd irgendwen lachend begrüßen, der auch wieder so ein viel zu gut gelaunter, viel zu gut bezahlter Proll mit Abitur ist. Oh je, wenn wir schon mal ausgehen ... Ja, nicht wahr, man kommt sich vor wie ein Hinterwäldler. Dabei sind es die Hinterwäldler, die sich hier bestens auskennen und alles bevölkern und versauen, weil sie hier ihr Geld machen und ihr Geld ausgeben und dabei dauernd Weltstadt spielen müssen.“

So. Und schon habe ich mir dank fremder Federn ein paar Euro verdient. Kostet mich Schnäpse, weiß schon. Aber ist er nicht gottvoll, dieser kleine Absatz? Sie können ruhig zustimmen, schließlich sind Sie ja nicht gemeint, liebe Leserinnen und Leser. Es sind ja immer die anderen, die sich so aufführen. Und es sind immer die anderen, die in Lokalitäten gehen, wo – und nun zitiere ich wieder Altenburg – „am Eingang eine Frau hinter einer Kassenfestung sitzt und Plastikkärtchen verteilt. Sie ist freundlich, aber von dieser glatten, teilnahmslosen, amerikanischen Arschlochfreundlichkeit, die dich im Zweifelsfall mit einem Lächeln den Securityleuten übergibt und die sich jetzt überall im Dienstleistungsgewerbe breitgemacht hat. Ja, verstehe, so sind sie hier alle.“

Noch mehr Schnäpse, ist ja gut. Aber hat er nicht recht? Wo bewegen wir uns hin in dieser Stadt? Ist das krank oder ist es eine ganz normale Entwicklung, die aber uns alten Knaben auf den Geist geht, weil wir in unseren verkrus-teten Hirnen immer noch eine Sozialromantik mit uns herumschleppen, die wir uns sogar in den glorreichen Siebzigern erst herbeitrinken mussten? Kurz: Bin ich blöd oder sind es die anderen? Ist es beispielsweise wirklich klaglos hinzunehmen, dass in einer altehrwürdigen Frankfurter Institution wie der Gaststätte Rink im Musikantenweg nun Caipirinha im Bembel ausgeschenkt wird? Dass irgendwelche Event--Hansels mit dem Spruch „Gewohntes mal anders“ vorgeben, Tradition zu pflegen und dann leichenfledderisch und (auch noch falsch geschrieben) unter dem Titel „Oma Rink’s Weltreise“ irgendwelches Ethno-Futter verkloppen? Klar, ich bin befangen. Ich gehörte vor einem Vierteljahrhundert zu denen, die bei Lulu Schwarz (geborene Rink) samstags zusammen mit einem Dutzend alter Männer am Stammtisch sitzen durften und Sportschau gucken und Eintopf essen. Und hinterher aktualisierten wir auf der Magnettafel an der Wand die Bundesligatabelle. Das prägt. Deswegen stülpt sich mir heute der Magen um, wenn ich nur einen Fuß in das Lokal setze und sehe, was irgendwelche ahnungslosen Innenarchitekten daraus gemacht haben. Hätte man es wenigstens abgerissen und eines der üblichen Drecksdinger hingebaut, meinetwegen so ein Fachwerkimitat, womit sie nun auch bald die Innenstadt verschandeln werden. Oh je, Frankfurt. Und Matthias, Bruder im Geiste, ich glaube, wir müssen noch viel Schnaps trinken ...

Erschienen im Journal Frankfurt 14/2007
 
30. November 2008, 05.10 Uhr
Michi Herl
 
 
Fotogalerie:
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