Es gilt als gesichert, dass er der künftige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland wird. Damit wird er nach Ignatz Bubis der zweite Frankfurter sein, der dieses Amt ausüben wird.
Barbara Goldberg/ PIA Stadt Frankfurt /
Er ist Eintracht-Fan und das seit seiner frühen Kindheit. "Ich habe gejubelt und gelitten mit Generationen von Mannschaften und Trainern. Heute noch könnte ich sämtliche Spielernamen aus Jahrzehnten aufzählen", sagt Dieter Graumann. Sport hat in seinem Leben immer eine große Rolle gespielt. Jahre lang war er Präsident des jüdischen Sportvereins TuS Makkabi 1965 Frankfurt e.V.; auch heute noch hält er sich mit Joggen und Fahrradfahren in Form. Und Kondition, körperliche Fitness wird Dieter Graumann brauchen, wenn er künftig zusätzlich zu seinen vielen politischen Ämtern und beruflichen Verpflichtungen auch noch zum Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland gewählt werden wird. Ein Generationswechsel in der Führung des Zentralrats
Dass Graumann, der in diesem Jahr 60 wurde und damit gleich alt wie der 1950 gegründete Zentralrat ist, Ende November Charlotte Knobloch auf dieser Position ablösen wird, gilt als gesichert. Vor wenigen Tagen hat er, der bisherige Vizepräsident, seine Kandidatur für dieses Amt öffentlich bekannt gegeben. Auch wenn der Ausgang sicher scheint, wird seiner Wahl mit Spannung entgegengesehen, denn mit Graumann vollzieht sich ein Generationswechsel in der Führung des Zentralrats: Erstmals wird ein Nachgeborener, ein Angehöriger der so genannten Zweiten Generation, wie die Kinder von Überlebenden der Shoah genannt werden, den Vorsitz über den Dachverband übernehmen und das politi sche Sprachrohr der jüdischen Gemeinden in Deutschland sein.
"Ein lächelndes, ein freundliches Judentum" möchte Graumann künftig nach außen repräsentieren, das als "Bereicherung inmitten einer pluralen Gesellschaft" empfunden werde. Die Rolle des Mahners und Tugendwächters ist nicht diejenige, die er künftig im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik zu spielen gedenkt. Anbiederung von seiner Seite ist aber nicht zu befürchten, denn Graumann wird stets auch Eigenart und Eigenständigkeit des Judentums betonen. Assimilation, das drückt er unmissverständlich aus, bedeutet für ihn, "die eigene Identität ins Wasser zu schmeißen". Dissonanzen, so fügt er hinzu, müsse man eben aushalten können. Auch innerhalb der eigenen Reihen. So beg rüßt er es, dass sich zum ersten Male seit der Shoah wieder Pluralität innerhalb des deutschen Judentums entwickele, auch wenn alle unterschiedlichen Strömungen, Orthodoxe, Progressive und Liberale, nach wie vor in dem weltweit einmaligen Modell der Einheitsgemeinde zusammengefasst sind. Geschichtsvergessenheit – auch diese Gefahr gilt für Graumann nicht. Dagegen sprechen schon die eigene Biographie und das Schicksal seiner Familie. Nur warnt er davor, den Holocaust zur "Ersatzidentität" zu machen. Stattdessen fragt er: "Wofür sind wir, und wofür stehen wir, als Juden in Deutschland, im 21. Jahrhundert?"
In dem Bemühen, Brücken zu bauen, sieht sich Graumann ganz in der Nachfolge von Ignatz Bubis, den er als sein Vorbild und seinen Förderer bezeichnet: "Er würde sich freuen über meine bevorstehende Wahl“, ist er überzeugt. Beide verband auch die Liebe zu Frankfurt, der Stadt, die eher zufällig zu ihrem Zuhause wurde. Die Eltern Graumann, die aus Polen stammen, hatten sich im Lager für Displaced Persons in Frankfurt-Zeilsheim kennengelernt und auch dort geheiratet. Gemeinsam wanderten sie nach Israel aus, wo ihr einziges Kind David geboren wurde. Aber der Vater, der sechs Konzentrationslager und einen Todesmarsch überlebt hatte, vertrug die dortige Hitze nicht. Also kehrte die Familie nach Frankfurt zurück, vorerst zunächst - und blieb. Aus David wurde Dieter, ein hervorragender Schüler, der auf dem Goethe-Gymnasium mehrere Auszeichnungen erhielt. "In der Grundschule war ich das einzige jüdische Kind, auf dem Gymnasium kannte ich nur wenige andere jüdische Schüler", erinnert sich Graumann. Alle anderen Kinder hatten Großeltern. Er nicht. Seine waren ermordet worden.
Nach dem Studium der Volkswirtschaft erhielt Graumann die Chance, in der volkswirtschaftlichen Abteilung der Bundesbank zu arbeiten – "eine ungeheuer spannende und lehrreiche Erfahrung", sagt er. Er hat die Zentralbank dennoch nach gut zwei Jahren wieder verlassen und sich selbständig gemacht. "Ich wollte nicht Gefangener einer Hierarchie sein", begründet er diesen überraschenden Schritt. Der Wunsch, etwas Eigenes aufzubauen, war wohl zu groß – ganz wie bei seinem Vater, der an der Hauptwache, wie Graumann mit einem Lächeln und einem Anflug von Stolz erzählt, "den ersten Schnellimbiss von ganz Frankfurt" eröffnet hatte. Später wechselte er ins Immobiliengeschäft, die Häuserverwaltung hat mittle rweile der Sohn übernommen.
Wird er Frankfurt treu bleiben, obwohl der Zentralrat in Berlin ansässig ist? "In jedem Fall", versichert er. "Ich bin gerne Frankfurter, ich bin sogar ein begeisterter Frankfurter." Denn nirgendwo sonst erkenne man gesellschaftliche Trends und Entwicklungen so früh und schnell, "wie in einem Brennglas", glaubt der 60-jährige. "Die kleine Metropole mit dem großen Herzen", wie er seine Heimatstadt liebevoll nennt, "wird immer mein Lebensmittelpunkt bleiben."