Seit sieben Verhandlungstagen versucht Richter Jens Aßling den Tod der Studentin Tuğçe aufzuklären. Nun hat der Angeklagte einen Befangenheitsantrag gestellt. Wird dem stattgegeben, muss der Prozess neu aufgerollt werden.
Christina Weber /
Seit November 2014 sitzt Sanel M. in Untersuchungshaft. Der 18-Jährige ist angeklagt, die Studentin Tuğçe auf dem Parkplatz eines Schnellrestaurants in Offenbach so heftig geschlagen zu haben, dass sie stürzte und an den Folgen starb. Schon vor der Verhandlung, die am 24. April begann, versuchte die Verteidigung, ihn auf freien Fuß zu bekommen. Bisher ohne Erfolg. Seit rund zwei Monaten liegt der Antrag nun beim Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt. Das nahm Sanel M. nun zum Anlass, am siebten Verhandlungstag einen überraschenden Antrag zu stellen: Er hält Richter Jens Aßling für befangen und fordert einen neuen Richter. Wird diesem Antrag stattgegeben, würde das schwerwiegende Folgen haben – der ganze Prozess müsste mit einem neuen Vorsitzenden neu aufgerollt werden. Das würde den Urteilsspruch auf unbestimmte Zeit verschieben. Bisher wird das Urteil Mitte Juni erwartet.
Der Hintergrund ist folgender: Zum einen soll Aßling dem OLG das Video von der Tatnacht – ein überaus wichtiges Beweismaterial – nicht vorgelegt haben. Zum anderen soll der Richter beim OLG eine Zusammenfassung des Videos eingereicht haben, die falsche Interpretationen enthalte. Darin sieht die Verteidigung von Sanel M. einen Beweis für Befangenheit. Inzwischen sei aber schon der erste Vorwurf ausgeräumt, berichtet Macit Karaahmetoğlu, der Anwalt von Tuğçes Familie. „Es war ein Missverständnis, das sich aufgeklärt hat. Der Richter ist davon ausgegangen, dass die Staatsanwaltschaft das Video eingereicht hat.“ Er habe den Fehler aber bemerkt und das Beweismittel umgehend nachgereicht.
Auch im zweiten Vorwurf sehe Karaahmetoğlu keinen Grund für einen Befangenheitsantrag. Bei der Stellungnahme sei es um die Frage gegangen, ob ein dringender Tatverdacht vorliege. Das sei ganz leicht zu belegen, denn das Video zeige, dass Sanel M. derjenige ist, der zuschlägt, erläutert Karaahmetoğlu. Mögliche Interpretationen – ob wahr oder falsch – spielen bei dieser Fragestellung keine Rolle. „Ich gehe davon aus, dass der Befangenheitsantrag zurückgewiesen wird“, so der Anwalt.
Ein solcher Antrag könnte vermuten lassen, dass die Anwälte von Sanel M. sich schlechte Chancen ausrechnen. Die Zeugenaussagen widersprechen sich bisher – was zu Sanel Ms. Vorteil sein könnte. Bleibt jedoch die Frage, welche Darstellung der Richter für glaubhaft hält. Karaahmetoğlu sagt über die Zeugenaussagen der Freunde des Angeklagten: „Sie haben ihre Aussagen der Legende der Verteidigung angepasst.“ Denn sie haben bisher ausgesagt, dass Tuğçe den Angeklagten beschimpfte, Wörter wie „Hurensohn“ sollen gefallen sein. Erst daraufhin soll der 18-Jährige zurückgekommen sein und zugeschlagen haben. Dieser Darstellung widerspreche aber dem Video, so der Anwalt.
Er schildert die Vorgänge so: Edin K., ein Freund von Sanel M., habe gesagt, „schaut euch diese Schlampen an. Wenn es Männer wären, würde wir sie zusammenschlagen“. Der Angeklagte habe zu diesem Zeitpunkt schon in einem Auto gesessen, im Begriff wegzufahren. Nach einer kurzen Rücksprache mit Edin K. aber seien beide Männer auf die Mädchengruppe zugerannt und hätten beinahe parallel zugeschlagen – Sanel M. gab Tuğçe eine Ohrfeige, sein Kumpel einer ihrer Freundinnen. „Die haben ganz klar verabredet, den Mädchen einen Denkzettel zu erteilen“, so Karaahmetoğlu. Beleidigungen von Seiten der Mädchen seine zu diesem Zeitpunkt gar nicht gefallen. Auch alle unbeteiligten Zeugen hätten das ausgesagt. Darüber hinaus habe auch die Jungs-Clique um den Angeklagte beim Polizeiverhör nicht erwähnt, dass die jungen Frauen sie beleidigt hätten.
Die Verhandlung wird am Mittwoch, 3. Juni, vor dem Darmstädter Landgericht fortgesetzt. Ob der Befangenheitsantrag durchgeht, entscheidet sich spätestens in zwei Wochen.