Als letzte Woche die Meldung von den Frankfurter U-BahnschlägerINNEN die Runde machte, brachte das die ohnehin schon sehr aufgeregte Debatte um Jugendgewalt auf eine völlig neue Ebene. Nicht nur, dass plötzlich Mädchen die Täterrolle einnahmen, diese Wesen mit den rosigen Wangen, von denen man bis dahin dachte, sie würden den ganzen Tag singen und glockenhell vor sich hin lachen. Doch Zynismus beiseite: Das eigentlich Schockierende an der Geschichte ist die Tatsache, dass die Täterinnen in einem vollbesetzten Waggon und in der Folge auf dem Bahnsteig offensichtlich ungestört von den übrigen Fahrgästen ihr Opfer krankenhausreif schlagen konnten. Es ist aber auch schwer. Ständig mahnen Politiker, Lehrer und der gesunde Menschenverstand zur Zivilcourage. Dann zeigt die in Bayern mal einer und was passiert? Bei dem Versuch alleine die Täter zu stoppen, geht es ihm selbst an den Kragen und jetzt ist er tot. Da fragt sich der gemeine Pendler natürlich: „Wenn das so gefährlich ist, soll ich dann überhaupt helfen, und wenn ja wie?“ Zwei Frankfurter wissen die Antwort: Ordnungsdezernent Volker Stein (FDP) und Verkehrsdezernent Lutz Sikorski (Grüne) haben sich gestern in demonstrativer Eintracht und mit stattlicher Entourage aus Mitarbeitern und Pressevertretern aufgemacht, sie in Form einer Broschüre unters fahrende Volk zu bringen.
„Gewalt-Sehen-Helfen“ steht drauf. Nicht den Held spielen soll man ihrem Inhalt nach, aber auf keinen Fall wegschauen. Andere ansprechen, die Polizei rufen, alles tun um die Gewalt öffentlich zu machen. Sollte doch eigentlich selbstverständlich sein, oder? Am Startpunkt Hauptwache postieren sich die beiden am oberen Ende einer Rolltreppe, um die aus der Tiefe hervorquellenden Menschen abzufangen. Die Meisten sind erstmal völlig überfordert. Ist ja auch komisch, sich plötzlich einer Wand aus Fotografen und Fernsehkameras gegenüber zu sehen, von zwei unbekannten Männern irgendwas Rotes in die Hand gedrückt zu bekommen und zwei Schritte weiter, ohne Zeit gehabt zu haben, auch nur eine Zeile zu lesen, von eifrig kritzelnden Journalisten zur Aktion befragt zu werden. Nun gut, immerhin sind ein paar nette Bilder entstanden: Lutz und Volker Seit an Seit im Gespräch mit den Bürgern. Ich möchte dann aber doch wissen, ob die Diskussionen zu Sicherheit und Kriminalität hinter verschlossenen Parlamentariertüren genauso harmonisch ablaufen wie diese Infoaktion. „Gerade in den Fraktionen der Grünen und der FDP dürften doch vor allem die Ursachen für die Gewalt eher kontrovers disku…“ – „Bei dem Thema existiert keine Kontroverse“, unterbricht FDPler Stein barsch. Man wisse, wo die Täter herkommen. Aha, woher denn? „Es sind Jugendliche, Menschen mit geringem Bildungsniveau, häufig Menschen mit Migrationshintergrund, kurz: die Verlierer unserer Gesellschaft.“ Er spricht von Prävention, Sozialarbeitern und der Kirche. Außerdem von den „Ursachen vor Ort“, die man bekämpfen müsse, wie etwa „architektonische Entwicklungen“. Kurze Verwirrung auf meiner Seite, bis er präzisiert: „Wenn irgendwo dunkle Ecken sind, das muss überwacht werden.“ Lutz Sikorski sagt, Videoüberwachung sei “nur technisches Beiwerk, das Wesentliche ist der Mensch“. Es brauche mehr „Leute, Ansprechpartner, natürlich auch Uniformierte“. Ein Grund für mangelnde Zivilcourage ist für ihn, dass „wir uns angewöhnt haben, zu sehr vereinzelt zu sein“.
Vereinzelt stehen auch die vier Wartenden an der nächsten Station unserer kleinen Reise, dem Zoo, herum. Stein drückt einer älteren Dame die Broschüre in die Hand. Sie sagt „Danke, fahren die Züge hier auf beiden Seiten in Richtung Hauptwache?“ „Äh ja, auf beiden Seiten.“ sagt er verdutzt. Sie bedankt sich abermals, lässt die Broschüre gedankenverloren in ihre Handtasche fallen und geht weiter. Zwei Jungs mit offensichtlichem Migrationshintergrund finden das Ganze dagegen ganz spannend. „Seid ihr vom Fernsehen?“ fragen sie und drücken sich eine Weile in der Nähe unserer Gruppe herum. Sie werden allerdings von den Politikern nicht zur Kenntnis genommen. Komisch, dabei hätte das doch sicher wieder gutes Bildmaterial gegeben…
Aber es wäre natürlich unfair, die Kampagne „Gewalt-Sehen-Helfen“ auf dieses medial ausgeschlachtete Flyerverteilen zu reduzieren. Sie wurde schon lange vor der aktuellen Diskussion im Jahr 1997 ins Leben gerufen und beinhaltet verschiedenste Präventionsprojekte vom Schultheater bis zum Zivilcourageseminar für Erwachsene. An der Hauptwache stand für den Rest des Tages ein Infostand, wo man sich für ein solches Seminar anmelden und Fragen zum Thema Gewaltprävention stellen konnte. Ohne Blitzlichtgewitter und Fernsehkameras hat sich das vielleicht sogar jemand getraut.