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Interview mit Antonio Martins

"Die WM ist ein elitäres Event"

Vor einem Jahr haben tausende Brasilianer gegen soziale Misstände protestiert - der Film "The Vinegar Syndrome" dokumentiert dies. Nun wird er in Frankfurt gezeigt. Ein Interview mit einem brasilianischen Juristen.
Der brasilianische Jurist Antonio Martins lebt seit achteinhalb Jahren in Frankfurt, er lehrt und forscht an der Goethe-Universität. Am 3. Juli wird der 32-Jährige bei einer Podiumsdiskussion im Museum Angewandte Kunst über die Protestkultur in Brasilien sprechen. Anschließend wird der Dokumentarfilm "The Vinegar Syndrome" vorgeführt, der sich mit den Demonstrationen 2013 beschäftigt. (Beginn: 20.30 Uhr.)

Herr Martins, wie stehen Sie dazu, dass die Fußball-WM in Brasilien ausgetragen wird?
Ich finde an sich nicht schlecht, dass ein großes Sport-Event in einem Land wie Brasilien ausgetragen wird – zumal Fußball immer noch der beliebteste Sport in Brasilien ist. Problematisch ist die aktuelle Lage. Riesige Ausgaben, Stadien die dreifach mehr gekostet haben als ursprünglich veranschlagt, Stadien, die in Städten gebaut wurden, in denen es kein großes Publikum für Fußball gibt. Die Verkehrsinfrastruktur wurde, anders als versprochen, nicht oder nur teilweise verbessert. Dazu kommt, dass die WM ein elitäres Event sein wird – leider können viele Fußballfans gar nicht zu den Stadien gehen, weil die Eintrittskarten extrem teuer sind. Man muss sehen, Fußball war immer ein sehr populärer Sport in Brasilien. Auch wirtschaftlich scheint die WM viel weniger interessant zu sein als es eingeschätzt wurde.

Der Dokumentarfilm "Vinegar Syndrome" zeigt, wie vor einem Jahr viele Menschen in Brasilien gegen soziale Missstände demonstriert haben und wie die Proteste von der Polizei bekämpft wurden. Wie hat Ihnen der Film gefallen?
Den Film fand ich sehr gut. Er zeigt mit großer Präzision die drei wichtigsten Elemente zum Verständnis der Proteste in Brasilien: Das Entstehen einer spontanen Bewegung, die gegen soziale Ungleichheit, mangelnde Infrastruktur und mangelnde staatliche Fürsorge revoltiert. Das muss man klar sehen: Die Proteste richteten sich nicht primär gegen die WM. Auslöser war zunächst die Erhöhung der Preise der Bustickets in São Paulo und Rio – der starke Kontrast zwischen den Investitionen für die WM und den Mängeln im Bildungs- und Gesundheitssystem ist nur ein Aspekt in diesem Zusammenhang. Das zweite Element ist die gewaltsame Reaktion der Polizei, die nicht darauf vorbereitet ist, mit sozialen Protesten umzugehen und zum großen Teil rechtsstaatlichen Erwartungen nicht entspricht. Das dritte Element betrifft die Medien – die etablierten großen Medien, die die Wirklichkeit nur sehr ausgewählt darstellen und die neuen Medien, die dies demaskieren. Ich habe die Proteste als Ausbruch demokratischen Willens wahrgenommen – nach Jahren politischer Apathie.

Wer hat mit der Gewalt aus Ihrer Sicht angefangen?
Die Proteste begannen – soweit ich das verfolgen konnte – meistens friedlich: Die Ausschreitungen der Polizei haben dazu geführt, dass – wenn überhaupt – eine Gegenreaktion entstanden ist. Es gab einen tragischen Fall, in dem ein Kameramann aufgrund der Explosion eines Feuerwerks gestorben ist – und schnell wollte die Presse das als Mord ansehen, und die Staatsanwaltschaft hat eine Klage wegen vorsätzlichen Totschlags erhoben. Das entsprach nicht der Wirklichkeit.

Wie beurteilen Sie das Vorgehen von Polizei und Demonstranten als Jurist?
Die Ausschreitungen der Polizei werden im Film und in zahlreichen Internet-Videos gezeigt: Die brasilianische Polizei – als Institution – handelt außerhalb der Grenzen eines Rechtsstaates. Das hat mit einer gewaltsamen Geschichte und Tradition zu tun – man denke an den Eröffnungsdiskurs von Luiz Ruffato bei der letzten Frankfurter Buchmesse –, in der die Polizei stets ein Instrument zur Etablierung der Macht und zur Unterdrückung von politischen Reaktionen war. Die Militärdiktatur hat diese Tradition vertieft, indem sie die Polizei in eine Strategie des Kampfs gegen einen politischen Feind mit einbezogen hat. Auch jetzt haben Regierungen versucht, die Polizei politisch zu benutzen, um die Proteste zu bremsen – dieser Versuch ist gescheitert. Aber man muss dies in einem breiteren Szenario sehen: Nicht wenige Strafgesetze der letzten Jahre stehen nicht in Einklang mit dem Rechtsstaat. Man denke an das Gesetz gegen kriminelle Organisationen, an Änderungen in dem Strafvollzugsgesetz bezüglich Isolationshaft oder an Verordnungen des Gouverneurs von Rio de Janeiro während der Proteste, die das Recht auf freie Demonstrationen einschränken wollen. In Rio wurde das Vermummungsverbot in Demonstrationen neulich durch ein bundesstaatliches Gesetz eingeführt. Zuletzt gibt es einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung des Terrorismus, die während der Demonstrationen an politischer Kraft gewonnen hat. Viele wollten, dass das Gesetz noch vor der WM in Kraft tritt. Zu diesem breiteren Szenario gehört auch die Nähe zwischen Regierung, Staatsanwaltschaft und Polizei, die zusammen – politisch – agieren. Zum Beispiel in Rio de Janeiro. In São Paulo ist es möglicherweise auch der Fall.

Welche Rolle spielen die Medien in Brasilien?
Man muss zwischen zwei Phänomenen unterscheiden. Die großen Medien spielen eine wichtige ideologische Rolle – meistens ergibt sich dies aus der politischen Überzeugung vieler Journalisten, die sich mit einer bestimmten, konservativen Ideologie identifizieren. Dies hat dazu geführt, dass die Proteste zunächst als Vandalismus herabgestuft wurden. In bestimmten Fällen kann man tatsächlich von Manipulationsversuchen sprechen: Das Verschweigen von Informationen, ein halb koordiniertes Arrangement, um Informationen zu kontrollieren. Dies geschieht selbstverständlich diffus. Neu in dieser Landschaft ist die Rolle von neuen und alternativen Medien, die diese Strategien mit Videos aufgedeckt haben. Sie waren in vielen Fällen vor Ort und haben Filme gedreht – während die große Presse nur irrige Meinungen voll von Vorurteilen äußern konnte. Die Rolle von der Mídia Ninja in diesem Prozess ist nicht zu unterschätzen. Das kann man in dem Film sehen.

Wie schätzen Sie die derzeitige Stimmung in Brasilien ein? Könnten Proteste zu einem vorzeitigen Ende der WM führen?

Die Gründe für die Proteste bestehen immer noch. Die Zahl von denen, die damit unzufrieden sind, dass die WM in Brasilien stattfindet, ist gestiegen – die Enttäuschung ist jetzt größer, da es klar geworden ist, dass die Verbesserungen nicht kommen werden. Die Mehrheit sieht es anscheinend eher als Nachteil, dass die WM in Brasilien ausgetragen wird. Dass neue Proteste zu einem vorzeitigen Ende der WM führen könnten – das glaube ich nicht. Dass es neue Proteste während der WM geben wird, das glaube ich doch wohl. In welchem Maße, ist schwierig einzuschätzen. Zu befürchten ist meiner Meinung nach die Reaktion einer höchst wahrscheinlich verzweifelten Polizei (und verzweifelten Regierungen).

Brasilien schien in den vergangenen Jahren einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt zu haben. Wie schätzen Sie die Entwicklung in nächster Zukunft ein?

Ich bin nicht geübt in der Kunst der Prophezeiung. Und ich bin kein Wirtschaftswissenschaftler. Die Tatsache ist, dass die ökonomische Lage sich etwas verschlimmert hat im Vergleich zu der Lula-Regierung, besonders was das Wachstum des BIP angeht. Die Lage ist jedoch besser als in der Ära vor der Regierung der PT. Vor zwei Monaten habe ich in der Folha de São Paulo in einem Artikel gelesen, dass die wirtschaftliche Unsicherheit der Bevölkerung größer ist als in den schlechtesten Jahren von FHC – obwohl die Situation viel besser ist. Dies hat bestimmt mit den Medien zu tun.
 
2. Juli 2014, 11.00 Uhr
Die Fragen stellte Lukas Gedziorowski
 
 
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