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Foto: Chiaki Soma © Nói Crew
Foto: Chiaki Soma © Nói Crew

Theater der Welt

„Die Welt ist nicht eine, die aus einer zentralen Perspektive betrachtet wird“

Muss ein Kulturfestival heute die potenzielle Krise schon mitdenken? Ja, findet Chiaki Soma. Die Programmdirektorin plädiert außerdem für ein Theater der Welten im Plural.
JOURNAL FRANKFURT: Frau Soma, in Ihrem kuratorischen Statement lesen wir von Inkubationismus. Das mag für einige unserer Leser seltsam klingen. Was können wir uns nun auf einem Theaterfestival hierunter vorstellen?
Chiaki Soma: Ich denke, es ist normal, dass der Begriff Inkubationismus für manche Leute seltsam klingt, weil er nicht leicht zu verstehen ist. Aber ganz einfach ausgedrückt ist die Inkubation eine Metapher für die Zeit des Wartens, ohne zu wissen, was in der Zukunft geschehen wird. Wie jeder weiß, hat das Wort Inkubation eine doppelte Bedeutung: die Geburt mit dem Schlüpfen des Eis und die Wartezeit bis zum Auftreten der Krankheitssymptome. Während der Pandemie haben wir alle diesen Zustand der Inkubation in der Quarantäne oder der Selbstisolierung erlebt, ohne zu wissen, wann genau dies enden würde.

Aus moderner oder fortschrittlicher Sicht könnte man diese ungewisse Zeit als unproduktiv und uninteressant empfinden. Ich denke jedoch, dass wir aus dieser Erfahrung der Inkubation etwas lernen müssen. Ich schlage „Inkubationismus“ als eine positive Haltung vor, um mit der Ungewissheit zu leben und die potenzielle Kraft der Kreativität zu erschließen. Wenn wir uns in einem Grenzzustand befinden, wie in einem Traum oder in der Wartezeit, können wir eine andere Sicht auf die Welt mit anderen Empfindungen haben. Ich möchte diese Art von Haltung in die Erfahrung des Publikums einbringen.

Inkubation positiv gedacht

Ein weiterer Umstand, der Ihre Arbeit prägt, ist das Kollektiv Arts Commons Tokyo, bei dem Sie Mitglied sind. Wie wirkt sich diese Erfahrung der Zusammenarbeit auf Ihre jetzige Position aus?
Arts Commons Tokyo ist eine Non-Profit-Organisation, die ich 2014 mit 13 Mitgliedern gegründet habe. Davor habe ich eines der größten Festivals für darstellende Künste in Japan geleitet, das mit vielen Schwierigkeiten im institutionellen Rahmen zu kämpfen hatte. Diese Erfahrung hat mich dazu gebracht, mich unabhängig zu machen, um mehr Flexibilität und Kreativität zu haben, um die herausfordernden Ideen des Kuratierens zu verwirklichen und mich sozial zu engagieren.

Die Mitglieder von Art Commons Tokyo sind alle unabhängige Fachleute mit unterschiedlichen Talenten und Fähigkeiten, und wir alle teilen diesen unabhängigen Geist unter uns. Derzeit sind zehn Mitglieder von japanischer Seite aus am Theater der Welt beteiligt. Und ihre flexible Professionalität hilft mir wirklich auf allen Ebenen bei der Umsetzung meiner kuratorischen Idee und des Programms.

Mehr Flexibilität und Kreativität durch Unabhängigkeit

Was sagen Sie denen, die eine dezidiert japanische Perspektive auf die Dinge erwarten werden: Gibt es so etwas überhaupt – oder schlagen Sie ganz andere Kategorien vor?
Ich schlage das Konzept „Theater der Welten“ anstelle von „Theater der Welt“ vor, weil die Welt nicht eine Welt ist, die aus einer zentralen Perspektive betrachtet wird, die im europäischen Festivalkontext oft sehr eurozentrisch oder humanzentrisch ist, sondern aus mehreren Perspektiven. Japan ist eine der Regionen, die ihre eigene Geschichte und ihren eigenen sozialen Kontext hat. Aber ich muss sagen, dass die Geschichte Japans hauptsächlich von Männern und nicht von Frauen gemacht und geschrieben wurde. Ich muss also sehr vorsichtig sein, um Ihre Frage nach der „japanischen Perspektive“ zu beantworten.

Für das Theater der Welt werden fünf in Japan lebende Künstlerinnen und Künstler ihre eigenen politischen und sozialen Fragen und künstlerischen Praktiken, die sie in ihrem Heimatland gesammelt haben, nach Deutschland bringen. Satoko Ichihara, Saeborg und Aya Momose zum Beispiel sind allesamt Künstlerinnen, die ihre Werke im Theater der Welt präsentieren werden, und die eine wahrhaft queere Perspektive einbringen, da sie in einer sehr patriarchalischen japanischen Gesellschaft leben.

„Theater der Welten“ statt „Theater der Welt“

Theater der Welt ist ein Format, das in wechselnden Städten in Deutschland stattfindet. In diesem Jahr sind Frankfurt und Offenbach die Gastgeber. Haben Sie sich im Vorfeld mit den Orten vertraut gemacht – und wenn ja, wie haben Sie beide Städte erlebt?
Ich kenne beide Städte dank Akira Takayama, einem japanischen Künstler, der acht Jahre lang ein assoziierter Künstler des Mousonturms unter der Leitung von Matthias Pees gewesen ist. Da ich bei einigen seiner Projekte als Dramaturg mitgewirkt habe, hatte ich die Gelegenheit, beide Städte mehrmals zu besuchen.

Seine Projekte basieren auf umfangreichen Recherchen über die sozialen und historischen Zusammenhänge und beziehen die Menschen vor Ort mit ein, insbesondere Migranten und Flüchtlinge. So konnte ich dank seiner anspruchsvollen Projekte wie dem Complete Manual of Evacuation (2014), der Mac Donald Radio University (2017) und dem Wagner-Projekt (2019) die sehr unterschiedlichen und verborgenen Gesichter dieser beiden Städte kennenlernen.

Haben Sie lokale Organisationen, Akteure, Vereine gezielt in das Festival einbezogen?
Die Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort ist ein wesentlicher Bestandteil des Theaters der Welt. Mitveranstalter wie das Museum Angewandte Kunst und das Schauspiel Frankfurt, die Stadt Offenbach sowie viele lokale Kunstschaffende und Vereine sind unsere Partner auf allen Ebenen. Ohne sie hätte es das Theater der Welt nicht gegeben. Ich würde sagen, dass die gegenseitige Partnerschaft zwischen dem Festival und den lokalen Organisationen eine wesentliche Grundlage für dieses Festival ist.

Zusammenarbeit mit lokalen Kunstschaffenden

Sie wünschen sich, dass ein solches Theaterfestival den unsicheren Zeiten Rechnung trägt und notfalls auch flexibel umgestaltet werden kann. Wie würde ein solches „Theater der Welten“ im Krisenfall aussehen?
Ich lebe in Japan, wo sich fast täglich Erdbeben oder Naturkatastrophen ereignen. Seit dem großen Erdbeben in Ostjapan und dem Reaktorunfall in Fukushima gehört das Leben mit diesen sehr instabilen und unsicheren Situationen zu meinem Alltag. Die Pandemie von Covid-19 war eine weitere Art von Krise, mit der alle Menschen in Zeiten der Globalisierung konfrontiert waren. Und wir haben täglich viele Konflikte und Kriege auf dieser Erde.

Für mich muss ein internationales Festival mit dem Bewusstsein konzipiert werden, dass wir uns in einer permanenten Krise befinden. Es ist eine wesentliche Aufgabe eines internationalen Kunstfestivals, die Stimme der Menschen zu hören, die in einer solchen Krise leben und leiden, aber mit der Fantasie der Kunst überleben. So laden wir die Musiktheaterproduktion „Chornobyldorf. Archäologische Oper“ aus Kiew ein, komponiert und inszeniert von Roman Grygoriv und Illia Razumeiko.

Wir sollten auch nicht vergessen, die Stimme von nicht-menschlichen Existenzen wie Tieren und Klimazonen zu hören. Wir haben viele Produktionen, die uns dazu einladen, uns aus der nicht-menschlichen Perspektive vorzustellen, wie die verspielte Tierkostümshow von Saeborg, die Lecture Performance „Zoo Hypothesis“ von Hsu Che-Yu, das erstaunliche Animationstheater „100 Monsters“ von Ho Tzu Nyen.

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Zur Person: Chiaki Soma ist Gründerin und Direktorin von Arts Commons Tokyo, einem unabhängigen Kunst- und Theaterkollektiv. Als Kuratorin und Produzentin hat sie sich auf transdisziplinäre zeitgenössische Kunst spezialisiert. Sie hat große Theaterfestivals geleitet und arbeitet als außerordentliche Professorin an der Tokyo University of the Arts.

>> Dieser Text erschien zuerst in der Juli-Ausgabe des JOURNAL FRANKFURT (7/23).
 
3. Juli 2023, 11.35 Uhr
Katharina J. Cichosch
 
Katharina Cichosch
 
 
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