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Radio Sweetheart Frankfurt

Unser Bericht über die Programmänderungen beim Radiosender hr3 hat Wellen geschlagen. Nun hat sich zur Rettung der Sendung "Der Ball ist rund" mit Klaus Walter eine Initiative gegründet, die Webseite findet sich hier. Christina Mohr schreibt bei Intro: "Es ist kein bisschen übertrieben zu behaupten, dass die Bedeutung von „Der Ball ist rund“ vergleichbar ist mit John Peels Sendungen für die BBC." Sie erinnert außerdem daran, dass vor 24 Jahren alles mit einem Artikel im Pflasterstrand über das "Jugendprogramm des HR3" begann. Diesen Artikel, man könnte auch Bewerbungsschreiben beziehungsweise "Meine-künftigen-Kollegen-sind-Volldeppen"-Text dazu sagen, dokumentieren wir hier. Bleibt noch gute (Lese-)reise ins Hybrisland Klaus Walters zu wünschen.

... und wenn Sie Freizeit haben, dann hüpfen Sie!
Monatelang hat sich Klaus Walter intensiv mit HR 3-Top Time, dem Jugendprogramm des Hessischen Rundfunks, beschäftigt. Sein Urteil ist, wie nicht anders zu erwarten, vernichtend.

Cleveland, 1954: "Gelegentlich, wenn ihn eine Platte besonders mitriß, signalisierte er seinem Tontechniker, das Mikro aufzumachen, und dann begleitete er den Titel, indem er mit der offenen Hand auf einem schweren Telefonbuch von Manhattan den Rhythmus mitschlug. Manchmal begeisterte ihn eine Platte derart, daß er die Musiker mit einem 'Go, man, go!' anfeuerte oder seine Zustimmung in die Übertragung mischte: 'Yeah, man, yeah!'" (Arnold Shaw über den Radio-DJ Alan Freed, den "Rattenfänger des Rock'n'Roll").

Frankfurt, 1984: "Nicht zu verwechseln mit unserm ehemaligen Bundeskanzler ... soweit die Familie Smith." (Thomas Koschwitz, HR 3-Top-Time-Moderator; An- und Absage der wundervollen neuen Single der "Smiths": "What difference does it make")


Tja, what difference does it make? Dieser Frage wollte ich nachgehen. Die Idee schien reizvoll; die Ergebnisse standen längst fest: Was ist es, das mir HR3-Top-Time, das allabendliche Jugendprogramm des Hessischen Rundfunks, seit Jahren verleidet, warum kann ich das nicht hören, ohne mich zu ärgern, welche Fehler werden dort gemacht? Eine schwungvolle kleine Polemik sollte es werden, brillant & wirkungslos. Doch es kam anders. Mein Bestreben, Munition zu sammeln, Hörbeispiele aufzuzeichnen, erwies sich als eine ausgesprochen entsagungsvolle Tätigkeit. Die fixe Idee, ein gewichtiger Gegner wie der HR verdiene eine seriöse Recherche, ergriff zunehmend Besitz von meinen Gedanken. Stunde um Stunde, Tape um Tape, durchmaß ich in einem Zustand fast zwanghafter Sucht, ungeahnte Tiefen. Mein, wie ich nunmehr zugeben muß, bis dato leichtfertiges Urteil festigte sich erheblich und, ja, veränderte sich auch noch ein wenig.

Worum geht es eigentlich?
HR3-Top Time läuft täglich von 18.05 bis 22.00 Uhr, eben auf HR3, der »Servicewelle für unsere Autofahrer«, enthält also regelmäßig Hinweise auf Geisterfahrer und ähnliche Behinderungen des fließenden Verkehrs. Orthodoxe Marxisten können an dieser Stelle aufhören weiterzulesen, denn sie müssen nur hochrechnen, welches Bewußtsein dem gesellschaftlichen Sein dieses Sendeschemas notwendigerweise entsprechen muß (die Rechnung geht auf!). Pop- bzw. Rockmusik steht in dieser Jugendsendung im Vordergrund, es gibt Schwerpunkte zu Blues, Folk, »Black Music«, »Avantgarde«, eine Hörerhitparade, LP- und Single-Neuvorstellungen, Wunschsendungen und ein paar Info-Magazine, man kennt das.

Wen interessiert das eigentlich?
Mich, unter anderen. Seit zwanzig Jahren lebe ich bewußt mit und in Popmusik, war sie mir, wechselnder Intensität, Teil des täglichen Lebens, auf vielfältige Weise identitätsbildend. Pop ist die schnellste aller Künste. "Yesterday's news are tomorrow's fish'n chips paper", sagt Elvis Costello. Pop ist auch die unreinste aller Künste: bewegt sich zwischen Politik, Liebe, Kommerz, Ernst, Spaß, TV, Film, Straße ... beinahe hätte ich gesagt rhizomatisch, aber das ist aus der Mode. DAS Medium der Popmusik aber, allen modernen Anfechtungen zum Trotz, bleibt das Radio.
Eines kühlen Abends spazierte ich durch Hamilton, die Hauptstadt von Bermuda, und in einer Seitenstraße hörte ich plötzlich laute Musik aus dem Radio. Als der Song vorüber war, kam ein Discjockey mit einer Maschinengewehrstittinie, die so heiser klang, daß es beinahe weh tat.
Ich war überrascht. Das konnte nicht sein! Aber plötzlich merkte ich, daß allenthalben dieselbe Stimme aus den Radios klang – es war die von Alan Freed von der Stations WINS in New York. In dein kleinen Plattengeschäft am Ende des Blocks gab es alle amerikanischen R&B-Platten, die gerade in Mode waren, und sonst nichts.

(Arnold Shaw überalan Freed)

Wie heißen sie eigentlich?
Freed, Impressario, Produ-zent, Animateur, Komponist, DJ, nannte seine Sendung »The Moon Dog Rock'n Roll House Party«. HR3-Top Time Sendungen heißen: »Pop-Novitäten«, »Pop-Cocktail«, »HRdry on the rocks«, »Plattenmarkt« oder »Oldies for Youngsters«.

Im alljährlichen Leser-Poll des englischen »New Musical Express« wird auch nach den beliebtesten Radioprogrammen gefragt. In diesem Jahr werden die ersten sieben Ränge von Personen, Menschen, sprich DJs belegt, erst danach folgen Nicht-Personality-Shows. Seit neun Jahren heißt die beliebteste Radiosendung schlicht »John Peel«.

Peel verdankt seine andauern-de Popularität - zumindest bei den NME-Lesern - einer entschiedenen Politik. Er hat sich nicht bloß als verlängerter Arm der Plattenindustrie verwenden lassen, vielmehr war er Teilnehmer und Aktivist bei großen Moden wie bei großen Umwälzungen. So hat er unabhängige Labels unterstützt und fördert seit Jahren junge, neue Gruppen in seinen Peel-Sessions. Auf diese Weise wurde John Peel in England zu einer Geschmacksinstanz. Mit seinem Namen verbindet sich aber auch ein kleines Lehrstück in Sachen Radio-BRD-Popkultur! Wieso? Die Peel-Shows werden wöchentlich auch im BFBS, dem britischen Soldatensender ausgestrahlt, und zwar im Großraum Köln-Düsseldorf. Auch der Frankfurter Raum erfreut sich der Beschallung durch einen Besatzersender, doch handelt es sich hier um die »American Forces Net-work«, und deren Domäne nennt sich Top 40, die Endlosschleife der jeweiligen Bestseller. Der kluge Leser ahnt, worauf ich hinaus will: welche neuen Bands hat Frankfurt seit, äh, 77 hervorgebracht, und welche neuen Bands hat, sagen wir, Düsseldorf seit 77 hervorgebracht? »8 x 4« oder »Mittagspause«? »Impuls« oder »DAF«? »Vitamin« oder »Liaisons Dangereuses«? Oder, noch»Kraftwerk«? An dieser Stelle darf gelacht werden.

Ich werde natürlich nicht behaupten, daß die genannten Gruppen sämtlich und ausschließlich Kinder des John Peel sind, wohl aber folgendes:
Einer Gilde alternder, anonymer Programmgestalter im hessischen Rundfunk haben wir mitzuverdanken, daß in der Metropole Frankfurt
- kein auch nur bruchstückhaft ausgebildetes kollektives Bewußtsein um das zauberhafte Phänomen Pop existiert
- bis vor einigen Monaten kein unabhängiger Plattenladen existierte
- in den letzten sieben Jahren keine halbwegs aufregende Pop-platte entstanden ist
- sich die Balken biegen werden vor falschem Gelächter, wenn ich sage, daß »Ich will Spaß« vom drögen Markus eine kleine Ausnahme gewesen ist
- kein DJ existiert, der in einer Nacht jenen Markus, Billy Bragg, Aretha Franklin und die Smiths spielen würde
- ...

Viel Feind viel Ehr' oder warum eigentlich so heftig?
Weil, nach B.B. die Dummheit sich durch ihre Größe unkenntlich macht.

Weil die verheerende Wirkung dieser Programme in ihrer bodenlos alltäglichen Wirkung liegt.

Gerade weil die Produzenten dieser vier Stunden Jugendprogramm keine ästhetisch-politische Orientierung verraten, gerade weil die Sorglosigkeit des »jeder wie er mag« (Lohr, Moderator) die »Untermalung des Feierabends« (Bombach, Moderator) dominiert, ist der Einfluß so mächtig.

»l am a DJ, I am what I play« (Bowie)

Diese Maxime galt für Allen Freed und seine Vorläufer, gilt für Peel und seine britischen Kollegen, gilt etwa auch für die Radio-DJs im »Zündfunk« des Bayerischen Rundfunks. Der DJ bespricht seine Platten, begründet seine Auswahl, beurteilt, bejubelt, verwirft und vor allem: er stellt Verbindungen her, Zusammenhänge durch seine Person. Er entwickelt und äußert Kriterien, an denen die Zuhörer ihren Geschmack, ihr Urteil reiben können. Sie liegen ihm zu Füßen oder lesen ihn quer, kaufen vielleicht gerade, was ihm mißfällt. Es entsteht also eine Kontinuität, eine Beziehung DJ-Hörer, auch eine Erwartung beim Zuhörer. Dieses simple Rezept, die einfache Tatsache, daß ein Kritiker mit Namen für seine Worte und Entscheidungen steht, begründet den Reiz und der Erfolg der Personality-Show. Die große Stärke der alten »SOUNDS« lag gerade in der extremen, oft sehr gelungenen stilisierten Personalisierung der Kritik, die soweit reichte, daß eine Platte oder ein Konzert nur noch Fixpunkt des Denkens, nicht sein einziger Gegenstand war. Kritiker/DJs stellen Haltungen aus, führen Urteilsfindungen vor, Leser/Hörer können diese adaptieren, mixen, verwerfen, ein anregendes Spiel.

Moderation – Mäßigung, Gleichmut (lat.)
»Pop-Novitäten, zusammengestellt von Klaus Kieswald, am Mikrofon Ulrike Knapp«
So arbeitet HR3-Top Time. Eine Ansagerin stellt ihre Stimme zur Verfügung, spricht Überleitungen zwischen Musiktiteln, die ein anderer, der Programmgestalter, augewählt hat. Das Wie? und Warum? dieser Auswahl bleibt im Dunkeln, die Moderatoren beschränken sich auf pure Fakten oder, noch schlimmer fast, versuchen sich in flott umgangssprachlichen Geschmacksstatements. Ein paar repräsentative Beispiele:
»Mordsnummer« (Bombach über Maffay)
»Flotte Nummer« (Bombach über Fiction Factory)
»hervorragend gemachte, produzierte Popmusik« (Lohr über Matthew Wilder)
»nicht nur der schiere Pop, sondern er überlegt sich auch ein bißchen was« (Lohr über Tho-mas Dolby)!!

»auf der A-Seite erfährt man, was man so erleben kann in einer Spielhalle und auf der B-Seite gibt's richtig schönen Rock« (Koschwitz über irgendeine kanadische Band, Kanada mögen sie alle)

Das letzte Zitat in seiner geschwätzig-harmlos daherkommenden, monströsen Dummheit mag als Musterbeispiel stehen für einen Jargon der Nichtigkeit. Plauderton, Inkompetenz und die dünnste aller Ironien schießen zusammen zu dem einen stets wiederkehrenden Satz: »Es bedeutet nichts, nichts, nichts ... «

Meister dieser Nichtigkeiten, die sie offenbar für die Essenz von »Unterhaltung« schlechthin halten, sind Koschwitz und Reinke. Beider Stimmen haben sich als besonders vielseitig und daher (ver-)käuflich erwiesen (Hoffmann's Gardinen, Sparkasse 1822 etc.), beide haben sich besonders schlichten Varianten des Humors verschrieben (eine zweistündige Sendung etwa bezog ihren Bandwurmwitz aus dem Versuch Koschwitz', Reinkes Stimme zu imitieren, auch Dialekt garantiert Komik ohne Ende). Auch Hellmann gehört dieser happy-go-lucky-Fraktion an, doch sind seinem Aufstieg Grenzen gesetzt, solange er die englische Sprache allenfalls rudimentär zu handhaben versteht.

"Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts" (Eisler)
Schlimmer noch als diese notorisch gutgelaunten Scherzbolzen sind jene Moderatoren, die sich der Sinnproduktion verschrieben haben. An hervorragender Stelle muß hier Jörg Eckrich genannt werden. Programmgestalter, Ansager und ideologisches Mastermind verkörpert er idealtypisch den durch und durch ausgewogenen Geist dieses Programms. Gern stellt er sich als "Rockpapa Jörg" vor (Man sage das mal laut vor sich hin: "Rockpapa Jörg" – ein kaum zu überbietendes Skandalon mickrich betulicher Harmlosigkeit). Dienstags stellt Papa zwei Stunden neue LPs vor. Er tut dies mit der Rechtschaffenheit eines Buchhalters. Säuberlich ordnet er jedes Stück seinem Genre bei, "hier etwas für unsere Hardrockfreunde", "da was für die Freunde der black music" und "auch für die Freunde ausgefallener, schwer zugänglicher Klänge haben wir etwas". Die Sprache macht die Musik: Mainstream heißt stets "schöner, sauberer Mainstream", Funk "geht ganz schön in die Beine", Rock dagegen "ganz schön zur Sache", während die »Singer/Songwriter« für »ruhige Töne« und »auch durchaus kritische Texte« zuständig sind und von »kleinen, unabhängigen Plattenfirinen« nicht selten »gewagte, risikofreudige auch ein bißchen avantgardistische Klänge« kommen. Musiker werden bevorzugt als »Herrschaften« bezeichnet, die sich in »Formationen« zusammenfinden (der gemütlich-technokratische Diminutiv: »alles halb so wild, alles Handwerker, Stars beeindrucken mich nicht, . . .«)
Auch Kritik ist vorgesehen: Synthesizer bergen beispielsweise immer die Gefahr »steril« und »künstlich« zu klingen, »Disco« wird oft »monoton«, »Heavy Metal« dagegen »allzu martiaalisch, ob das denn unbedingt notwendig ist«, aber auch »allzu perfekte Produktionen« sind nicht gern gesehen, »zu glatt«, »zu wenig authentisch»; immer »authentisch«, weil »ungekünstelt«, »direkt aus dein Bauch«, wo bekanntlich die Wut sitzt, kommt Rock im Dialekt, von Plattdeutsch bis Kölsch, von » Treibholz« (»...fühl' mich wie Treibholz«) bis Herne 3 (»hier im Ruhrpolt fühl ich mich wohl, hier riechts nach Menschen ... «), die BAP-Generation geht ihren Weg, Mundart & Gauloises, authentisch & spontan. Wohlgelitten sind auch »Liedermacher« englisch »Singer/Songwriter«, in deren Zuständigkeitsbereich »Texte« gehören, und zwar: »anspruchsvolle, scharfzüngige, ironische, bösartige, zum Nachdenken, zum Hinhören . . . « . . .

Genug der Beispiele!

Wer noch immer nicht gemerkt hat, daß hier ödester linksliberaler Volkshochschuljargon bewußtlos breiter und breiter getreten wird und bis zur Unkenntlichkeit auch noch als kritisch verkauft wird, dem kann ich nicht mehr helfen. Einer zähklebrigen Flüssigkeit gleich überzieht der behäbige Redefluß dieses »Rockpapas« alles, was immer er antrifft, mit dem hoffnungslos mediokren Tugendkanon alternder Jusos. »Nur keine Extreme« lautet seine Devise, da ist er ganz Programmgestalter. Der ein wenig nach links verschobene (aber wo ist dann links?) Moloch »Ausgewogenheit« regiert diese Sendungen. Eine fatale Ausgewogenheit, die nicht nach dem Motto »zwei rechts, zwei links« Themen und Meinungen ausbalanciert, nein, diese Ausgewogenheit findet ihren vornehmsten Ausdruck in der Auslöschung von Persönlichkeit, in der Einebnung jeglicher Ideosynkrasien, der Verdurchschnittlichung jeglicher Äußerung. »Rockpapa Jörg« und seine geistesverwandten Adjutanten moderieren Pop mit der Sachlichkeit von Wasserstandsmeldungen, der Erotik eines Fritz Klein und der Inspiration mittelmäßiger TV-Literaturverfilmungen. Jede »Neuerscheinung« erhält ihren Platz im wohlsortierten Archiv, das jeweilige Genre ist um eine Exemplar reicher, fertig. Unter der Hand gerät ausgerechnet diesen linksgestrickten Langweilern die Geschichte der Popmusik zu einer Geschichte von Waren, die fest umrissene Bedürfnisse fest umrissener Konsumentenkreise zu befriedigen haben (die Hardrockfreunde, die Funkfreunde ... ).

Dieser verniedlichende Zugriff ignoriert jede politisch-ästhetische Potenz des Pop, dementiert seine subversiven, verändernden Qualitäten. Ein besonders haarsträubendes Beispiel des »lt's only Rock'n Roll but I like it - Musik ist Musik und Politik ist Politik«-Syndroms:
Die Vorstellung einer Single der englischen Gruppe New Order kommentierte der Moderator mit dem Hinweis, diese Gruppe existiere nun in fast unveränderter Besetzung seit Jahren, habe sich lediglich mal von »Joy Division« in »New Order« umbenannt (etwa so, wie sich »Mario Girotti« später »Terence Hillz« nannte). Na und?

"Rundfunk muß auch ein Stück Abenteuer sein." WDR-Intendant von Seil in seiner Neu-jahrsansprache 1984 im WDR-Hörfunk.

Nun, hinter dem Namenswechsel und der »fast unveränderten Besetzung« verbirgt sich ein Ereignis, das in seiner Konsequenz für die britische Jugendkultur von ähnlicher Bedeutun ist, wie die Revolten von Toxteth 81. Im Sommer 1980 beging lan Curtis, Sänger von »Joy Division« Selbstmord. Unweigerlich wurde dieser Schritt als besonders seltene, heroische, radikale Fortset-zung der Kunst mit den Mitteln des Lebens, als unüberbietbare Einlösung des musikalischen Versprechens gewürdigt. »Hier hat einer um sein Leben gesungen«, würde Schütte sagen. Joy Division wurden im Zuge des heftig einsetzenden Totenkults zum Flaggschiff einer Wende in der britischen Nachpunkära. Aggression, Veränderung und Neuschöpfung der Jahre 76–79 wichen zusehends dem Weg nach Innen, der Depression. Der sprichwörtlich düstere Joy Division Sound wurde stilprägend, auf Jahre hin. Daß es sich hierbei um kein rein musikalisches, sondern durchaus gesellschaftspolitisch bedeutendes Phänomen handelt, dürfte sich auch schlichteren Gemütern erschließen.

Unser HR-Moderator, so darf unterstellt werden, ahnt von alledem nichts. »Die Unkenntnis zur Waffe rnachen«, sagt er sich und stellt seinen munteren small-talk in den Dienst des blanken Positivismus. Dieser ultra-harmlos daherkommenden Ignoranz, diesem sorglos-freundlichen »es-kommt-doch-irgendwie-gar-nicht-so-drauf-an-oder-so« -Weichgestus haben wir das Nullniveau, respektive die Abwesenheit eines anregenden politisch-erotisch-ästhetischen Diskurses um Pop in dieser Stadt zu verdanken.

Dabei steht es gerade in der Macht des Radio-DJs einzugreifen, auszusuchen, zu pushen, Trends zu setzen, Moden zu kreieren und zu kritisieren, d.h. einfach praktisch vorzuführen, daß Pop mehr als nur ein Stück Musik ist. Der DJ sollte ein aufregendes, neues, wichtiges, intelligentes Stück Pop retten vor der gigantischen Schrottwüste, die das reiche Repertoire der Rockmusik ausmacht. Er soll nicht beweisen, daß der Rock rollt und rollt, nein, er sollte Politik machen, indem er rigoros urteilt, Zusammenhänge herstellt, seinen Geschmack exponiert und begründet.

In HR3 Top-Time aber herrscht die Milde des Proporz, die Folgenlosigkeit des »mitunter« und »könnte man sagen«, das »für jeden etwas», die ultima ratio des Programmgestalters, die unerschütterliche Toleranz der Rockpapas und Opas.

Und dieses Tristesse wird Bestand haben, solange der HR nicht einen Seffcheque, Diederichsen, Morley, eine Clara Drechsler oder mich als Gast-DJ mit allen Freiheiten engagiert.

P.S.
Es gibt sie doch!, höre ich sagen, die Personality-Show in HR3 Top-Time. Richtig, fast hätte ich ihn vergessen, den Veteranen im Team, der nichts unversucht läßt, sich einen Platz auf der Liste der peinlichen Persönlichkeiten zu erobern. Kenner wissen, daß hier nur von Volker Rebell die Rede sein kann, der in Sendungen wie »Volkers Kramladen« oder »Toptime-Avantgarde« gerne sein Innerstes nach außen kehrt. Einen einsamen Gipfel in Sachen unfreiwillige Satire erreichte die Kramladen-Ausgabe vom 22.3.84, die sogar Sportreporter Dieter Maiers Dauerclinch mit der deutschen Sprache und Wetterfrosch Elmar Gunsch, dem die Literatur die neue Gattung »meteorologische Lyrik« verdankt, auf die Plätze verwies.

Immer mal wieder hatte Rebell Kostproben eigener Songs in seine Sendungen eingebaut, meist ein bißchen milde ironische Kommentare, »Farbtupfer«, nun gut, d.h. schlimm genug. An jenem ging vollends der liebeskranke Gaul mit ihm durch: sich selbst auf der Gitarre begleitend ersetzte er die Sprechtexte (»wir wollen heute mal nicht reden, mal keinen small-talk zum besten geben«) gänzlich durch eigene Gesangsvorträge. Zu diesem Zweck hatte er einige möglichst mythenbeladene, sentimentale Museumsstücke der Pophistorie vorgekramt, die allesamt darauf warten, auf einem K-Tel Sampler »Songs, die unter die Haut gehen« dem Recycling zugeführt zu werden. Gezeichnet vom Verlust der Geliebten (»weißt du noch wie es 78 war, Hals über Kopf bist dufortgegangen«), beflügelt vom Zauber der Metapher (»die Leere war zum Bersten angefüllt«) konfrontiert Rebell den gar nicht schlecht staunenden Hörer mit kongenialen selbstgezimmerten Eindeutschungen von Perlen des Trübsals à la »Vincent« oder »You've got a friend«. Zeigt er sich schauernd ob »des Alltags kalter Hand« überkommt auch mich eine ausgewachsene Gänsehaut bei »Rebell goes Cat Stevens«:
»Er fragt sich was sie will
s'war viel Gefühl im Spiel
my Lady d'Arbanville«
Eine Sternstunde des Rundfunks, diese Personality-Show.

Klaus Walter, Mai 1984, Pflasterstrand.
 
6. November 2008, 12.24 Uhr
Pflasterstrand
 
 
Fotogalerie:
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