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Mein Abend mit Roger

Roger unterschreibt

Puh! Was für ein Tag: Ein Gespräch über Zwangsprostitution zum Brunch, dicht gefolgt von der Bibliothekseröffnung zum Mittag, dann „Dinner for One“ auf Hessisch, gleich in Anschluss ein Protestaufmarsch von geprellten Anlegern vor der DZ-Bank – zur Teatime, könnte man sagen. Hinfahren, ansehen, zuhören, aufschreiben – zurückfahren, Artikel schreiben, überarbeiten --- und so fort: Lukas als rasender Reporter. Auf seinem olivgrünen Hercules-Fahrrad unterwegs im Auftrag des Herrn, manchmal auch einer Dame, durch die Adern und Venen der Stadt am Puls der Zeit. Nach so einem Tag kam mir das Abendprogramm gerade Recht, auch wenn ich wieder zurück zur neuen Zentralbibliothek musste, in der man mir schon am Mittag einen Exklusiv-Rundgang beschert hatte. Roger Willemsen weihte den neuen Büchertempel mit einem Vortrag über den „Schönen Satz“ ein. Zugegeben: Ich hatte zuvor noch nie etwas von ihm gelesen, bis auf eine Anzeige für eines seiner Bücher in der Straßenbahn. Roger Willemsen, das war ein Name, den ich irgendeiner publizistischen Prominenz zuordnete, aber keiner konkreten Gestalt. Aber wenn dieser Mann ausgewählt, nein, auserwählt wurde, die schöne neue Zentralbibliothek samt WLAN und RFID-Technik den multimedialen Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts zu überreichen, dann konnte er nicht irgendwer sein, nein, es musste sich um eine Persönlichkeit und nicht um irgendeinen dahergelaufenen Schreiberling handeln.

Um es gleich zu sagen: Ich wurde nicht enttäuscht. Ganz im Gegenteil, ich war hin und weg. Herr Willemsen trat auf mit einer natürlichen Gelassenheit und selbstironischen Klugscheißerei im besten Sinne. Dieser Mann sprach wie ein Glückskind der Rhetorik und dabei auch noch wie gedruckt. Beeindruckende Hypotaxen, ohne Fadenverlust oder Dummschwätzerei ließen mich im Stillen fragen, wie einer wie Ede Stoiber es soweit bringen konnte. Das einzige, was ihn für die Politik disqualifiziert, ist sein Hang zur Ehrlichkeit. Zumindest kommt er ehrlich rüber, wenn er mit Anekdoten dem Publikum seine Liebe zur Literatur, zur Sprache, zum Satz vermittelt. Willemsen versprach den Hörern die schönsten Sätze der Weltliteratur, aber spannte sie mit Ausschweifungen auf die Folter, unterbrach immer wieder mit weiteren Verweisen auf die bevorstehende Bereicherung des Plenums mit Schätzen aus der Fundgrube seiner Lese-Eskapaden und überraschte dann umsomehr mit zündenen Aphorismen. Eine Vorstellung, die jeden „Stand-Up-Comedian“ an Sprachkunst und Niveau deklassiert: Er zitierte Sprachschöpfungen aus „Brehms Tierleben“, erzählte von einem Hündchen aus dem 17. Jahrhundert, das einen altersbedingten Wahnsinnsanfall bekam, bescherte uns Phrasen wie „in Fortfall geraten“, „sie müssen sich zerstreuen“ und „das gehört verschwunden“.

Willemsen lässt es sich anmerken, dass er viel gelesen hat und er zitiert die Großen und Kleinen wie er spricht: am Fließband, aber so, dass man die Punkte, Kommata und – das besonders geübte Ohr – sogar die Semikola heraushört, und ohne das Publikum mit all- und altbekannter Phrasendrescherei zu langweilen. Vielmehr sind es die Underdogs der Literatur, die er zitiert, wie zum Beispiel Kleist, Lichtenberg und Freddy Quinn. Lauter schöne Sätze reiht er aneinander ohne in die Falle des Aufzählcharakters zu tappen, denn seine eigenen dazwischen stehen den zitierten in nichts nach: „Ihr Applaus wäre mir lieb in ausbleibender Form,“ sagt er, einfach so, wie aus dem Handgelenk heraus. Man möchte es ihm glauben, wenn er sagt, dass er manchmal in eine Bäckerei geht, nur um mit Pathos den Satz aufzusagen „Viktor, bringe dieses Holz nach Xanten“, wieder hinauszugehen und damit die Verkäuferin für eine Weile ihrem tristen Alltag existenziell zu entrücken.

Wir lernen von Willemsen, dass Leser die besseren Menschen seien und weil es mehr weibliche als männliche Leser gebe, also eigentlich den Frauen dieses Attribut zustehe. Er bringt uns die schöpferische Kraft des Lesens nahe und die Einzigartigkeit des Schreibens, das qualvoll, unökonomisch und aussichtslos sei und das aller Widerstände zum Trotz doch betrieben würde. Und dieser Gedanke ist es, der mich nach dem vollbrachten Tageswerk zum Weitermachen ermutigt und mich am Tag darauf dazu bringt, endlich diesen, ersten durch und durch positiven Blog zu schreiben, in der Hoffnung, dass er das gute Karma weiterträgt.
 
21. September 2007, 15.30 Uhr
the luke
 
 
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