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Foto: Nicht von dieser Welt: Das Kunstkollektiv Baby of Control. © Balduin Mund
Foto: Nicht von dieser Welt: Das Kunstkollektiv Baby of Control. © Balduin Mund

Kunst im Kollektiv

Was geht zusammen besser? Alles!

Voneinander lernen, zusammen stärker sein, die Verhältnisse ins Wanken bringen, und sogar Scheitern macht gemeinsam mehr Spaß: Ein Streifzug durch die Geschichte gemeinsamen kreativen Arbeitens und ein Porträt über fünf Frankfurter plus ein Offenbacher Kunstkollektiv.
Es ist wieder so weit: Am 18. Juni wird die documenta in Kassel eröffnet. Kuratiert wird die weltweit größte Ausstellung für zeitgenössische Kunst diesmal von einem Kollektiv – ein Novum in der Geschichte der documenta, die immer sehr stark von einzelnen Kuratorinnen und Kuratoren geprägt wurde, die entweder permanent im Licht der Kunstöffentlichkeit standen oder sich diesem bewusst entzogen, wie Adam Szymczyk, künstlerischer Leiter der documenta 14. Das Kollektiv ruangrupa – der Name bedeutet „Raum der Kunst“ – stammt aus Jakarta. Der Grundgedanke ihrer Arbeit ist die Gemeinnützigkeit. Ressourcen sollen gemeinsam erwirtschaftet und geteilt werden. Kollektivität bedeutet für sie mehr, als nur einfach zusammenzuarbeiten, nämlich einen Mehrwert zu teilen. Und deshalb ist für ruangrupa ein Kollektiv auch eine offene Gruppe von Leuten, die immer erweitert werden kann. „Weil wir als Gruppe neugierig sind, ergibt sich die ständige Erweiterung wie von selbst. (…) Wir ziehen keine Grenzen zwischen dem, wo wir aufhören und wo andere anfangen, und das gilt hoffentlich auch umgekehrt“, sagen ruangrupa in einem Interview mit der Kunstvermittlerin Nora Sternfeld. Auch die documenta-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer sind in Gruppen, sogenannten „Mini-Majelis“ eingeteilt, „Majelis“ heißt auf Indonesisch Versammlung. Einzelne Künstlerpersönlichkeiten sollen nicht im Vordergrund stehen.

Die Arbeit im Kollektiv scheint im Kunstbetrieb derzeit en vogue zu sein: Beim „Festival der jungen Talente“, das im Mai im Kunstverein Frankfurt lief, arbeiteten Studierende verschiedener Hochschulen an Projekten zusammen. Kooperation und Improvisation sind dabei wichtige Antriebsfedern. „Prozesse der Kollektivierung tragen immer einen jeweils ganz bestimmten Begriff von Gesellschaft in sich. (…) In gelungenen Momenten eröffnet das Probehandeln alternativer Formen von Gemeinschaftlichkeit Möglichkeiten der gesellschaftlichen Selbstverständigung, um das Verhältnis von Kunst und Demokratie neu bestimmen zu können“, schreiben Katharina Hausladen und Genevieve Lipinsky de Orlov im Vorwort der „Texte zur Kunst – Collectivity“ (erschienen im Dezember 2021). Die Kollektive stehen im Gegensatz zur einzelnen Künstlerpersönlichkeit, die sich am Kunstmarkt des Neoliberalismus orientiert, den sogenannten Künstler-Superstars. Nach zwei Jahren Corona-Pandemie und während eines Krieges in Europa, dessen Ende und Folgen noch nicht absehbar sind, rücken andere Werte in den Fokus: Zusammenhalt und Miteinander. Dass Kollektive auch eine Kehrseite haben, beschreibt Helmut Draxler in seiner Kritik der Kollektivität: „Kollektive haben stets gewaltförmige Kehrseiten; sie sind grundsätzlich nicht nur inklusiv, sondern stets auch exklusiv, notwendigerweise begrenzt und endlich.“ Kollektive seien, so Draxler, genauso anfällig für Rivalität und Hierarchie. Was Kollektive für ihn besonders fragwürdig machen, sei eine Anziehungskraft für den Mainstream der institutionellen Kultur.

Kollektivität ist in der Kunst keine neue Erscheinung. In den 60er und 70er Jahren gab es etwa die Art Workers‘ Coalition oder die Women Artists in Revolution. Auch das Bauhaus verfolgte einen kollektivistischen Ansatz: Hier arbeiteten Künstler und Handwerker miteinander. Bauhaus-Gründer Walter Gropius hatte in einem revolutionären Manifest von 1919 für das Studium wie folgt geworben: „Aufgenommen wird jede unbescholtene Person ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht.“ Die Bilanz nach 14 Jahren war allerdings ernüchternd, denn in den Kreis der Lehrenden schaffte es nur eine Frau. Wenn sich ein Künstlerkollektiv für eine Zeit räumlich niederlässt, folgt oft die Gründung einer Künstlerkolonie. Beispiele hierfür sind die Nazarener in Rom, die Schule von Barbizon oder die Künstlerkolonie Worpswede. Und das sind nur die hier bekanntesten Künstlergruppen – wenn man Kunstbegriffe und geografische Horizonte erweitert, wird man auf unzählige weitere Beispiele treffen. Nicht alle Konstellationen sind gleich ein Kollektiv, nicht alle Zusammenschlüsse auf Dauer angelegt. Die gemeinsame Arbeit kann eine große Anziehungskraft entfachen, aber ebenso schnell wieder auseinandertreiben. Zusammen ist man fraglos stärker im Kunst- und Kulturbetrieb, muss aber zugleich auch verschiedene Meinungen ausloten.

Sechs Frankfurter Kollektive haben uns über sich und ihre Arbeit berichtet: saasfee*, die schon in den 1990er Jahren und seitdem nicht nur in immer wieder wechselnden Konstellationen, sondern auch an diversen Standorten ein Kollektiv sind. Neben eigenen Arbeiten, die interdisziplinär zwischen verschiedenen Sphären von Digital und Analog mäandern, ist saasfee* heute auch kuratorisch sehr aktiv. Mit ihrem gleichnamigen Pavillon und dem zugehörigen Soundgarten haben sie der Stadt einen wichtigen Off-Space beschert, für den das Kollektiv hart kämpfen musste, wie es erklärt, „da finanzielle Interessen in dieser Stadt eigentlich immer Vorrang haben.

Oder Swoosh Lieu, deren Arbeiten zum Beispiel im Mousonturm aufgeführt werden und die sich als queerfeministisches Kollektiv verstehen. Baby of Control, die eigentlich kein Frankfurter, sondern ein Offenbacher Kollektiv sind, aber nach eigener Aussage ohnehin von einem ganz anderen Planeten stammen. Kulturvotzen-TV oder kurz KVTV, die nicht nur Ausstellungen nach allen Regeln der Kunst verreißen, sondern auch als ungebetene Gäste selbst auf Vernissagen auftauchen können – zum Beispiel zur Rubens-Ausstellung im Städel Museum, in der Mitglied Sonja Yakovleva mit rubensmäßig hochgeschnürten Brüsten mehr Aufsehen erregte als die ähnliches zeigenden Meistergemälde.

Mit allen Wassern der Medienmaschinerie gewaschen scheint auch die Frankfurter Hauptschule, die die genaue Anzahl ihrer Mitglieder nur in kryptischen Primzahl-Erzählungen verrät. Viele erinnern sich noch an den Heroinschuss, den sich ein junger Mann stellvertretend fürs Kunstkollektiv als Statement zur Gentrifizierung der Stadt vor dem Römer injizierte oder an geknackte Liebesschlösser am Eisernen Steg. Wenn sich ihre krawallig inszenierten Aktionen bisweilen gegenseitig zu widersprechen scheinen, dann ist das durchaus einkalkuliert – subversive Feinheiten, die allerdings im Entweder-Oder unserer Zeit schnell untergehen. Anarchisches Vergnügen hatten die Künstlerinnen und Künstler sicherlich trotzdem.

Sowieso ein Faktor, der nicht zu unterschätzen ist: „Spaß und Quatsch“ listen die Künstlerinnen von HazMatLab neben Kritik, Experiment und Innovation als einen Vorzug des gemeinsamen Arbeitens. Dazu gehört auch die Erforschung diverser Materialien auf ihre Kunsttauglichkeit. Nagellack zum Beispiel, Wundermittel der koreanischen Schönheitsindustrie, 3D-gedrucktes Filament und grüner Schleim. Vor Kurzem wurde das Künstlerinnenkollektiv von einer anderen Gruppe als Gast zur documenta eingeladen, um dort eine Woche lang vor Ort zu arbeiten und auszustellen. Umgekehrt sind dieser Tage auch in Frankfurt Kollektive zu Besuch, die im Stadtraum arbeiten oder ausstellen werden: Das Kollektiv Botswana Pavilion zum Beispiel, dessen Künstlerinnen und Künstler noch bis zum 4. Juni in der Galerie Sakhile & Me präsentiert werden. Der Titel „Maš(w)i a Ditoro (tsa Rona)“, eine Übersetzung des diesjährigen Biennale-Mottos in Venedig, ist zugleich ein Seitenhieb auf die repräsentativ verstandene Weltkunstschau dort, in der manches Land – wie hier eben Botswana – überhaupt nicht vorkommt. Die kenianische Künstlergruppe NEST wiederum besucht gerade die Rhein-Main-Region, um gemeinsam mit der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD-Bund) das Projekt „The Feminine And The Foreign“ vorzubereiten, das auf der diesjährigen Wiesbaden Biennale präsentiert werden wird.

Natürlich ist die Aufzählung hiermit nicht abgeschlossen. Der Projektraum Synnika im Frankfurter Bahnhofsviertel beispielsweise wird nicht nur kollektiv betrieben, sondern hat auch regelmäßig Kollektive zu Gast. Und vom ehemaligen Center for Contemporary Arts Afghanistan [CCAA], dem ersten Zentrum für zeitgenössische Kunst in Afghanistan, konnten mehrere ehemalige Mitglieder nach Deutschland evakuiert werden – etliche von ihnen wohnen inzwischen in Frankfurt und Offenbach, einige studieren an der dortigen HfG. Hier schließt sich der Kreis zum documenta-Sommer, denn einen großen Auftritt hatte die Kunstgruppe auf der letzten Ausgabe der Weltkunstschau 2017. Es gibt zahlreiche Querverbindungen, die nach Frankfurt führen und wieder heraus. Man darf gespannt sein, welche neuen Zusammenschlüsse und Arbeiten sich von hier ausgehend entwickeln.

>> Botswana Pavilion sind noch bis 4. Juni bei Sakhile & Me zu sehen, Oberlindau 7, Infos: sakhileandme.com. Die documenta 15 läuft vom 18. Juni bis 25. September, Infos: documenta-fifteen.de. Die Wiesbaden Biennale startet am 1. September, Infos: wiesbaden-biennale.eu. Synnika präsentiert bis zum 1. Juli „Prickly Paper“, eine Schau über gemeinsames Büchermachen von Yifei Chen und Feihong Ou, Infos: synnika.space

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Dieser Text ist als Teil der Titelstory in der Juni-Ausgabe (6/22) des JOURNAL FRANKFURT erschienen. Den Link zum E-paper finden Sie hier.
 
17. Juni 2022, 12.42 Uhr
Jasmin Schülke/Katharina Cichosch
 
 
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