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"Ich habe einen Zettelkasten"

Ergänzend zu unserem Porträt im aktuellen Journal – ein Gespräch mit der Schriftstellerin Alissa Walser.



JOURNAL FRANKFURT: In Ihrem Debütroman „Am Anfnag war die Nacht Musik“ befassen Sie sich mit einem historischen Stoff? Wie sind Sie dazu gekommen? Oder war es umgekehrt?

Alissa Walser: Ich habe einen Zettelkasten. Dort landet alles, was so an mir hängenbleibt. Flüchtige Notizen, kleine Zeichnungen, es können auch mal Gegenstände sein. Alles eben, wofür ich in dem Moment keine Zeit habe. Und etwa 2005 – ich hatte gerade ein Buch von Ioan Culianu, „Eros und Magie in der Renaissance“ gelesen und war noch ganz berauscht von dem Gedanken, dass die Magie eine Wissenschaft sein könnte, eine Wissenschaft von unserer Imagination – streifte ich wiedermal durch meinen Zettelkasten und blieb sofort an einem Stück Papier hängen, auf dem stand: „Mesmer und Paradis. Der Magier und das Mädchen.“ Und: „Weibliches Genie?“ Drunter war eine kleine Zeichnung. Zwei Hände und einige Striche, die Vibrationen andeuteten. Ich nahm das sofort heraus und pinnte es an die Wand über meinem Schreibtisch. Das war der Anfang, auch wenn ich das nur rückblickend so sehen kann.

Dass es ein historischer Stoff ist, war dabei nicht ausschlaggebend. Mich interessiierte nichts als die interne Beziehung zwischen Mann und Frau, Arzt und Patientin, Musiker und Musikerin – zwischen alt und jung, männlich und weiblich, Kunst und Handwerk und so weiter, und das hätte mich ebenso interessiert, wenn es im 16. Jahrhundert oder in der Antike gespielt hätte.
Ich habe mich für diesen Stoff entschieden, weil ich viele „meiner“ Themen darin entdeckt habe. Themen, die schon in meinen früheren Büchern zentral waren: Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Der Körper als Spiegel des Zeitgeists. Und hier die Konzentration auf das Auge, auf das Sehen – wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen. Das kam mir als Malerin natürlich sehr entgegen.

JOURNAL: Wie lange haben Sie an Ihrem Roman gearbeitet und welche Recherchearbeit war nötig, um die Geschichte von Franz Anton Mesmer und Maria Theresia Paradis zu erzählen?

Walser: Nachdem ich den besagten Zettel an der Wand hängen hatte, fing ich an, Freunde und Bekannte zu befragen. Und staunte, wie unterschiedlich das war, was man mir über Mesmer und auch über die Paradis erzählte. Das machte mir die beiden noch interessanter. Irgendwann bin ich dann in die Bibliotheken gegangen. Natürlich in die Deutsche Bibliothek. Und auch in das Senckenberg’sche Institut für Geschichte und Ethik der Medizin. Dass diese Bibliotheken vorhanden waren und auch die Wege zu ihnen so kurz, das habe ich als ungeheuren Luxus empfunden. Mitunter hatte ich Texte vor mir liegen, die es in ganz Deutschland nur ein– oder zweimal gibt. Und die fand ich ausgerechnet hier: in Frankfurt!
Ich habe mich vollgesogen mit den Fakten. Und irgendwann saß ich dann wieder zuhause und begann zu schreiben. Und merkte, dass die Fakten einem nicht weiterhelfen. Die Fakten sind was fürs Gedächtnis, sind kaum mehr als Erinnerungsstützen. Das ist in der Literatur auch nicht anders als im Leben. Die Hauptarbeit des Schreibens, das Erfinden, fing ja erst an. Ich muß mir immer alles erschreiben. Jeden Blick, jede Geste, jedes Haar. Insgesamt habe ich knapp vier Jahre an dem Buch gearbeitet.


JOURNAL: Sie bleiben perspektivisch nahe an der Mesmer-Figur. War es eine große Herausforderung, eine Sprache zu finden für eine historische Zeit, ohne dabei ins Manierierte abzugleiten?

Walser: Das Buch ist in der dritten Person geschrieben. Allerdings hieß meine Hauptfigur von Anfang an Mesmer-und-Paradis. So ziehen sich leise zwei Perspektiven durch das Buch. Einmal Mesmers Pespektive und zum anderen die der Paradis. Innere Monologe und Gedankenflüsse in der dritten Person erlaubten mir, dicht an meine Personen heranzukommen, ohne ihnen zu nahe zu treten. Ich kann sie sozusagen von Innen und Außen gleichzeitig bewegen. Mit einer Ich-Figur hätte das weniger gut funktioniert, weil eine Ich-Figur ständig ihre Meinung äußert, ihre Vorurteile und Widersprüche.
Und so wie sich meine Figuren beim Schreiben entwickelt haben, so entwickelte sich auch meine Sprache beim Schreiben.
Klar war, dass es nicht ums Historisieren ging. Alles Barocke, wenn es denn bei diesem Thema überhaput vermisst werden könnte, ist Angelegenheit des Lesenden. Für mich war wichtig, die Komposition der Beziehung bloßzulegen, die Vorstellungswelt nicht vorzuschreiben. Vielleicht könnte man es mit einem Musikinstrument vergleichen. Wenn ich ein Stück von, sagen wir, Mozart spielen möchte, und die Wahl habe, zwischen einem historischen Instrument aus dem 18.Jhdt. und einem heutigen. Da habe ich mich für das heutige entschieden.

JOURNAL: Rezensenten haben Ihren Roman auch als einen modernen Emanzipationsroman gelesen. Würden Sie sich dem anschließen?

Walser: Zumindest dem heutigen Leser dürfte klar sein, dass beide meiner Hauptfiguren um Autonomie ringen. Wenn auch aus ganz unterschiedlichen Motiven. Die Paradis hat als blinde Frau durch ihr Handycap ein Stück Gesellschaft gewonnen: wäre sie nicht blind gewesen, hätte sie sich nicht professionell mit dem Klavierspielen und Komponieren beschäftigen dürfen. Dann hätte sie wohl eher den damals für Frauen üblichen Weg gehen müssen: Heiraten und Kinder gebären. Für sie, die ja sozusagen 24 Stunden täglich von ihren Eltern umsorgt wird, ist es ein großer Schritt in Richtung Autonomie, wenn sie in meinem Buch von Zuhause aus- und bei Mesmer einziehen darf. Allerdings wird dieser Schritt ja dann von heute auf morgen zunichte gemacht.
Und dann geht es um die Frage, wie bewahrt sie sich unter diesen nicht zu ändernden Umständen die größtmögliche Autonomie? Also, wie kann ich überhaupt noch etwas selbst bestimmen, unter diesen Umständen, die mich nichts als abhängig gemacht haben? Und da wählt sie das Klavier und die Blindheit. Auch wenn man eben in diese „Wahl“ nicht allzuviel Freiwilligkeit hineinlesen sollte.
Mesmer will mit seiner neu entwickelten Heilmethode von den Akademien anerkannt werden. Er denkt aber natürlich viel weiter. Er denkt über sich und den einzelnen Menschen hinaus. Er denkt weltweit, mindestens.
Die akademische Anerkennung seiner Heilmethode wäre nur die Grundvoraussetzung dafür gewesen, dass er sie offiziell hätte installieren können. Um damit die Welt zu verbessern. Diese gigantischen Ansprüche hat er gehabt.
Im praktischen Leben hat er seine Methode praktizieren können, und zwar mit Erfolg, aber er hat sie keinem erklären können. Und er hat sie nicht in eine Sprache der Vernunft übersetzen können. Also wollten die Akademien auch nichts von ihm wissen. Die Schritte, die er immer wieder auf die Akademien zu gemacht hat, waren so gesehen Schritte in Richtung Autonomie.
Bis zu dem Punkt, an dem er, eben weil ihm seine eigene Erfahrung das Wichtigste ist – wichtiger auch, als akademische Anerkennung –, andere Möglichkeiten verfolgt, seine Arbeit weiter zu entwickeln. Zum Beispiel mit Geldern privater Sponsoren.

JOURNAL: „Am Anfang war die Nacht Musik“ ist Ihr erster Roman. Zuvor haben Sie eher das kurze Format bevorzugt. Warum jetzt der Wechsel zur epischen Breite?

Walser: Ich schätze die kurze Form nach wie vor. Nur war mir diesmal klar, dass der Stoff in mir einen anderen Atem entwickelt. Und dem habe ich gern nachgegeben und habe mich weitertragen lassen. Ich arbeitete sehr kapitelorientiert. Eine Weile dachte ich sogar, jedes Kapitel sei eine Kurzgeschichte. Und da war es eine sehr angenehme Erfahrung, dass die Personen am Ende des Kapitels nicht verschwinden mussten, sondern vielmehr dableiben und im nächsten Kapitel unter modifiziertem Vorzeichen eine durchaus andere Geschichte forterzählen können.

JOURNAL: Sie leben und arbeiten seit Jahren in Frankfurt am Main. Wie empfinden Sie das kulturelle Klima der Stadt?

Walser: Aus meinen New Yorker Jahren habe ich gelernt, dass zu einem guten kulturellen Klima immer mindestens zwei Komponenten gehören: Einmal das, was in einer Stadt offiziell an Kultur geboten wird, d.h. in den offiziellen Institutionen wie Theater und Museen etc. Zum anderen aber eben auch eine Gegen-Kultur. Die Energie der vielen Künstler-Individuen, denen etwas fehlt in den offiziellen Häusern, und die auf diesen Mangel reagieren. Vielleicht könnte man sagen, dass das Kulturleben einer Stadt nur so aktiv ist wie seine Gegenkultur. Wo es keine Gegenkultur gibt, die aus eigener Kraft von Künstlern geleistet wird, schläft die offizielle Kultur bald ein, weil sie nicht mehr herausgefordert wird, weil nichts Unabhängiges als Innovation mehr hinzukommt.
In Frankfurt habe ich den Eindruck, dass es den Gegen-Kulturen in den letzten Jahren nicht leicht gemacht wurde. Das tut dem kulturellen Klima der Stadt alles andere als gut.

JOURNAL: Ihr Vater ist der Schriftsteller Martin Walser. Liest er Ihre Bücher? Haben Sie von ihm eine Reaktion auf den Roman bekommen?

Walser: Ja, er liest meine Bücher. Und der Roman gefällt ihm. Das freut mich.
 
21. Februar 2010, 21.27 Uhr
Christoph Schröder
 
 
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