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"Ich bin eine moderne Kreatur"

emilie autumn

Violine und Viktorianik gehören in die bizarre Welt von Emilie Autumn. Am 12. April um 18.30 Uhr kommt die Ex-Mitmusikerin von Courtney Love in die Batschkapp. Hier schreibt sie über die viktorianische Epoche.

Die viktorianische Epoche weist faszinierende und manchmal schreckliche Ähnlichkeiten zu unserer heutigen Zeit auf. So vieles, worauf wir unser Leben heute stützen, wurde im 19. Jahrhundert erfunden, entdeckt oder entwickelt. Durch die industrielle Revolution, die Entstehung einer Gesellschaft, deren Spiritualität und eines generellen Bewusstsein, ist es einfach, dort Parallelen zu entdecken. Dennoch: meine Musik und Texte sind keinesfalls ausschließlich über die viktorianische oder irgendeine andere Epoche. Ich schaffe – um genau zu sein – moderne Kunst, weil ich für und über mich schreibe. Ich bin eine moderne Kreatur, doch ich genieße es, Epochen und deren unterschiedliche Stilmerkmale zu verbinden und ein neues Bild zu kreieren. Ein Bild, das, wenn es richtig dargestellt ist, eine versteckte Wahrheit ans Licht bringt.

Wenn wir Szenen der viktorianischen Lebensnatur vermitteln, tun wir das nicht, um
der heutigen Realität zu entfliehen, sondern wir versuchen sie besser zu verstehen, indem wir die heutige Zeit und wie auch die Vergangenheit parodieren. Ich habe herausgefunden, dass das Erzählen eines Witzes der beste Weg ist, die Wahrheit preiszugeben.

emilieWie ziehen es vor, unsere Zeit als sehr modern, frei und progressiv zu beschreiben. Doch in vielerlei Hinsicht ist sie es gar nicht: Wir haben mehr mit unserer Vergangenheit gemeinsam, als wir vielleicht glauben wollen. Das trifft besonders auf das Behandeln von und die Meinung über Frauen zu, sowie auf die Medizin und Psychologie, welche schockierend verflochten sind mit weiblichen Themen. Die moderne Psychiatrie der viktorianischen Irrenanstalt entgegenzustellen, hat den allgemeinen Sinn zu zeigen, dass die beiden Institutionen nicht so unterschiedlich sind. Dass die Art, wie wir heute mit geistig Kranken umgehen (ein Thema, dass mir sehr am Herzen liegt und mein ganzes Leben beeinflusst hat), ziemlich viktorianisch ist -– und das ist nicht gerade positiv.

Nun, ich schreibe keine Liebeslieder. Und meine Show kann wahrscheinlich keine Demonstration von etwas sehr Erfreulichem sein oder eine Verherrlichung der alten Tage (welche nicht so glanzvoll waren). Das liegt daran, dass sie meist mit Blut, Tod und Elend zu tun haben, zusammengeknotet in einem hübsch pinken und funkelndem Paket. Schließlich kriegt man die Medizin tatsächlich besser runter, wenn man sie mit einem Löffel Zucker nimmt. Das ist der Grund, warum es funktioniert, das macht das Leben lustig. Denn ohne eine ordentliche Portion Humor würde es nicht erträglich sein.

Es ist eine wichtigtuerische, selbstgefällige und herablassende Art, die eine Form der Kunst (etwa die Musik) als wichtiger zu erachten, als die andere (das Visuelle). Man glaubt das tun zu müssen, weil es überlegener und kultivierter klingt. Aber um ehrlich zu sein, ist das eine Ansicht direkt von der klassischen Musikindustrie übernommen, in der ich einen großen Teil meines Lebens verbracht habe. Mir wurde seit dem ich vier Jahre alt war eingeredet, dass ich bloß die Musik bereits toter Komponisten in mir aufnehmen sollte, dass die Musik und meine dazugehörige Aufführung nicht von mir handeln dürfe. Alles nur entfernt visuell Interessante oder, Gott vergib mir, Aufreizende, sei eine schändliche Zerrüttung von der Musik der eben genannten verstorbenen Menschen. Offensichtlich sind sie wichtiger als wir Lebenden. Ist es nicht ironisch, dass mir immer noch gesagt wird, dass diejenigen, die ihre Augen benutzen das Wesentliche verkennen, obwohl ich gerade vor diesem restriktivem Denken geflohen bin und meine eigene Musik und Show entwickelt habe.

Ich bin von der Welt um mich herum beeinflusst. Von meinen Erfahrungen, guten wie schlechten, den Dingen die ich dazu lerne und besonders von den Dingen, die ich nicht verstehe. Und das viel mehr, als von einem bestimmten Musikgenre. Generell ist Musik inspirierend, sogar einfachste Noten oder nur der Gedanke an Noten. Sie sind die Sprache, wenn du einen Text schreibst. Ich wurde in einer Welt aufgezogen, die voll von klassischer Musik und Broadway Musicals war. Ich bewundere die Aggression des Industrial-Genre, doch am Ende will ich etwas Neues schaffen. Ich habe immer wieder herausgefunden, dass man Dinge, die nicht zusammengehören, nehmen muss, um herausfinden, wie sie gemeinsam funktionieren. Das ist der einzige Weg. Ich werde mein ganzes Leben daran arbeiten und hoffe, dass ich eines Tages wenigstens in die Nähe des Ziels komme, etwas Neues hervorzubringen.

Was ich tue ist für mich, weil ich es tun muss. Dasselbe gilt für die Mädchen, die die Bühne mit mir teilen und ihr großartiges Talent einsetzen, um das Beste aus der Show rauszuholen. Warum sollten wir den einen Teil in uns vom anderen trennen? Haben wir nicht genug Zeit mit dem Versuch verbracht, unsere gebrochenen Psychen wieder zusammenzunähen, die nicht ganz bleiben durften, als wir die regierenden Patriarchen noch zu fürchten hatten? Ich warne jeden davor, die auserlese komplexe Sexualität von Aprella, die erotische, einschüchternd selbstsichere Sinnlichkeit von Naughty Veronica, die facettenreiche, intensiv animalistische und einzig weibliche Leidenschaft von Blessed Contessa oder das wilde Original, humoristisch unkontrollierbar und die sogar gefährliche Abweichung und den kraftvollen Anmut von Captain Margot auseinander zu reißen... Wieso nicht uns alle in einen Sack stecken und Feierabend machen?

Nein, Sex und Sinnlichkeit werden nie etwas sein, was wir uns als einen billigen Trick aneignen. Ich denke nicht, dass das Publikum, dass so liebenswürdig ist und immer wieder zu uns kommt, so denkt. Das Publikum versteht, dass das Leben nicht ohne Sex und Sinnlichkeit existiert – und wer würde das auch wollen? Das ist, was wir sind. Zu versuchen das auszublenden, weil es Menschen Angst macht, wäre unnatürlich und pervers.

emilieautumnDas tägliche Leben zwingt uns dazu, einen Kompromiss mit uns und den verschiedenen Umständen zu schließen, die mit der Gesellschaft in der wir leben einhergehen. Doch auf der Bühne bin ich absolut frei. Meine „Botschaft“ ist Freiheit und ich liebe es, diese Freiheit mit den Menschen zu teilen, die kommen, um mich zu sehen. Besonders mit jungen Mädchen oder sogar älteren Frauen, denn wir alle müssen manchmal daran erinnert werden, was Freiheit bedeutet. Aus einer Gruppe von Mädchen zu kommen, die an einem oder anderen Punkt schon eingesperrt waren, ist diese Botschaft tiefschürfend. Hast du Angst vor deiner eigenen Sexualität oder was andere darüber denken könnten, bist du nicht frei. Jemandem zuzusehen oder zuzuhören, der wirklich keine Angst hat, kann oft sehr nützlich sein. Gott weiß, dass ich so jemanden gebraucht hätte, als ich aufwuchs. Ich war auch dazu gezwungen, meine Sexualität zu leugnen, mein Ich zu verstecken oder es sogar für den Willen alter, mächtiger Männer zu prostituieren, nur für eine Karriere. Niemand beschützte mich und niemand zeigte mir, wie ich mich selbst beschütze.

Doch ich lerne und das ist es, was ich weitergeben muss und von dem ich hoffe, dass ich es so gut es geht rüberbringe. Am Ende muss ich das für mich selbst tun. Würde ich das nicht, würde ich sterben. Ich bin unglaublich dankbar und respektvoll gegenüber den Menschen, die das, was ich tue schätzen und das feiern, was mich am Leben hält. Und verdammt noch mal, es macht wahnsinnig Spaß.

Aufgezeichnet von Detlef Kinsler, aus dem Englischen von Melina Kalfelis
 
10. April 2009, 16.59 Uhr
Redaktion
 
 
Fotogalerie:
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