Newsletter
|
ePaper
|
Apps
|
Abo
|
Shop
|
Jobs

Das Leben der Lo-Fi-Bohème



Heute und morgen im Atelierfrankfurt: der Kongress Re-build this City der Heinrich Böll Stiftung. Geht hin, das Programm lohnt sich. Wir dokumentieren hier ausgewählte Texte der geladenen Diskutanten, angefangen mit Christiane Rösinger. Viel Spaß!

Es ist doch seltsam, dass im Fernsehen und Radio immer noch „ein schöner Feierabend“ gewünscht wird, dass die Nachrichtensprecher nach einem Wochenende den kollektiven Beginn der Arbeitswoche ankündigen, obwohl kaum noch jemand regelmäßig arbeitet. Aber je weniger gearbeitet wird, desto mehr muss Arbeit simuliert werden, muss man wenigstens so tun, als ob man schwer beschäftigt wäre. Da kann man Menschen ganz schön verunsichern, wenn man bei Terminabsprachen freimütig versichert, immer Zeit zu haben.

Seit es in weiten Bevölkerungskreisen schick geworden ist, stets gehetzt zu wirken und Vollbeschäftigung anzutäuschen, hat der Müßiggang ein Imageproblem. Dabei gibt es doch immer mehr Unbeschäftigte, Unterbeschäftige, Nicht-Arbeitsuchende, Leute, die einfach viel Zeit haben. Das sind wir. Wir gehören nicht zu den glücklichen Arbeitslosen, denn wir sind ja nicht arbeitslos im eigentlichen Sinne. Wir haben keine Erwerbsbiographie, waren fast nie irgendwo angemeldet, haben keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Umschulungen, Weiterbildungsmaßnahmen, ABM, Kombilohn – wir kommen in keiner Statistik vor.

Auf wundersame Weise schlagen wir uns seit vielen Jahren als Freelance-Proletarier irgendwie durchs Leben und gehören nun einer niedrigschwelligen, leicht verarmten Großstadtbohème an. Die Old- und New Economy, die Erlebnis -und Dienstleistungsgesellschaft ging irgendwie an uns vorüber, Ich-AG und Prekarisierungsdebatte sind für uns ein alter Hut. Die beständige Unsicherheit unserer Lebensverhältnisse war lange Zeit kein Thema: Niemand sprach gerne über die zeitweilig desolate Lage, das führte bisweilen zu dem einsamen Gefühl, die einzige zu sein, die es nicht richtig hinkriegt.

Erst durch den Modebegriff der „Prekarisierung“ wurde das Durchwursteln öffentlich. Inzwischen ist es aber in gewissen Kreisen fast schick geworden, prekarisiert zu sein. Alle wollen dazugehören und prekär leben, downsizen ihr Einkommen, klagen über die bittere Erfahrung von den Eltern unterstützt zu werden oder malen den Teufel an die Wand, und unken, dass bald das Wochenendhaus in Österreich verkauft werden muss, wenn es so weiterginge – Arme Millionäre, wohin man schaut.

Dabei taugt der Prekarisierungsbegriff gar nicht für die Beschreibung unterschiedlicher Lebensentwürfe und ökonomischer Bedingungen. Lieber sollte man mal wieder über Klassenfragen diskutieren, aber das würde einigen Prekarisierten dann doch zu weit gehen. Denn letztendlich werden die meisten der zurzeit unterbeschäftigten Jungakademiker und Medienschaffenden ja doch noch ihren Platz in der Gesellschaft finden, auch wenn sie nicht ganz den Lebensstandard ihrer Eltern – hohes Einkommen, Immobilienbesitz und hohe Rücklagen – erreichen können. Die Low-Fidelity-Bohème gab es schon vor dem Prekariat und es wird sie auch hinterher wieder geben. Unsere bewährte Devise heißt „prima leben und sparen", sich durchschlagen ohne sich allzu sehr anzustrengen und verstellen zu müssen. Wir sind nicht Lo-Fi, weil wir den Anschluss verloren haben oder wegen der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, wir sind Bohemiens geworden, um nicht arbeiten gehen zu müssen!

Endloses Kaffeetrinken ist auch Arbeit

Und so ist das Leben der Bohème oft ein wenig langweilig, die Tage ziehen sich. Lange schlafen, ewig Zeitung lesen, immer wieder Kaffee trinken, am Schreibtisch sitzen, in der Wohnung umhergehen, aus dem Fenster sehen, die Nachbarn beobachten, gewissenhaft alle Fernsehserien analysieren, zwanghaftes Flanieren und endloses Sitzen in den immergleichen Cafés. Die Nächte ein ewiges Ins-Kino-Gehen, Was- Trinken-Gehen, Auf-Konzerte-Gehen, In-Clubs-Gehen, Auf-Partys-Gehen, Nach-Hause-Gehen. Der Menschenschlag, dem wir angehören, ist nun mal für ein eher kontemplatives Dasein geschaffen. Das kann langweilig, zugleich aber auch sehr anstrengend sein, denn alles was wir tun, ist gleichzeitig hochspezialisierte Arbeit: Sich informieren, schreiben, Projekte machen, Kultur schaffen, vernetzen, Band haben, Kinder großziehen, ausgehen. Bezahlt wird das natürlich nicht. Wir müssen Erlebnisse haben, um sie verwerten zu können, Demütigungen erleben, um daran zu wachsen, zwischenmenschliche Schwierigkeiten überwinden, um soziale Kompetenz anhäufen. Diese Anstrengungen werden von unserer leistungsorientierten Gesellschaft natürlich null honoriert.

Währt aber eine Phase der Unterbeschäftigung zu lange und wird nicht durch innere oder äußere Aktivitätsschübe unterbrochen, kann es auch in der Bohème leicht zum gefürchteten Unterforderungs-Burnout kommen. Der Unterforderungs-Burnout zeigt die gleichen schrecklichen Symptome wie der bekanntere Überforderungs-Burnout, nur umgekehrt. „Ist das noch Bohème oder schon Unterschicht?“ fragt man sich dann, wenn die eigenen TV-Gewohnheiten plötzlich denen der verkommenen Nachbarschaft gleichen, wenn man mit ähnlich trübem Blick bei Aldi in der Schlange steht, oder dem ungläubigen Krankenkassenangestellten, um an eine Zuzahlungsbefreiung zu kommen umständlich erklären muss, wie man mit einem so unregelmäßigem Einkommen überhaupt leben kann.

Kennen Sie den? Kommt eine Musikerin zum Arzt. Sagt der Arzt: „Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie. Sie haben nur noch zwei Wochen zu leben“ Ruft die Musikerin erbost: „Und wovon bitte?!“

„Ein Leben ohne Musik ist ein Irrtum" ist, dieses Bonmot geht auf Friedrich Nietzsche zurück. "Kann sein, aber die Annahme, von Musik leben zu können, ist auch ein Irrtum" antworten da die Musiker/innen. Aber was soll’s! Solange man sich den nachmittäglichen Latte Macchiato und abends den Sekt auf Eis noch leisten kann, darf man nicht jammern. Dafür führen wir doch ein herrliches Leben! Früh aufstehen müssen ist Geschichte, wir können unter der Woche lange ausgehen, und am Wochenende, wenn sonst alle unterwegs sind, zu Hause bleiben. Wir haben viel Zeit zum Nachdenken, Lesen, Liegen, Flanieren und Telefonieren. Wir sind frei und ungebunden. Und überflüssige Dinge wie Urlaub in Fernost, exotische Städtereisen, Rücklagen fürs Alter, Zentralheizung, Berufsunfähigkeitsversicherungen, Fitness-Abos, Hobbys und Markenkleidung brauchen letztendlich doch nur die Spießer!

Um aber unabhängig von Transferleistungen zu bleiben und den Unterforderungs-Burnout in Grenzen zu halten, empfiehlt es sich für den freiberuflichen Bohemien, einen ausgewogenen Jobcocktail zu mixen. Dieser Jobcocktail sollte sich zusammen setzen aus 50% künstlerischer, also unbezahlter Arbeit, wie etwa die eigene Band, die Trilogie, Ahnenforschung, Lesegruppe, oder eine sonstwie unrentable Firma, aus 35 % freiberuflicher, kaum vergüteter Tätigkeit bei einer kulturellen Institution, und um den Anschluss ans wahre Leben nicht zu verlieren, aus 25% tatsächlich bezahlter Arbeit in den sogenannten Brotjobs, idealerweise im bohemistisch-alternativen-popkulturellen Umfeld: Tippen, Kinokarten verkaufen, Gästelisten überwachen, Türstehen, Getränke verkaufen, Ladenhilfe.

Erholung von der ständigen Zwangskreativität

Während vor zwei Jahrzehnten noch das Gespenst der entfremdeten Arbeit herumgeisterte – wie schlimm, den ganzen Tag im Büro sitzen! – , träumt der Lo-Fi- Bohemien heute hin und wieder von einer relativ stumpfen, vielleicht leicht ordnenden oder überwachenden Tätigkeit, als Erholung von der ständigen Zwangskreativität. In sehr dunklen Momenten kann es sogar dazu kommen, dass plötzlich eine von außen aufgezwungene Struktur, ein Grund morgens aufzustehen als wohltuend empfunden und herbeigesehnt wird. Aber es gibt Schlimmeres, und es geht auch schnell vorbei.

Die Bohème ist kein klassenfreier Raum, auch in unseren müßiggängerischen Zirkeln gibt es die feinen Unterschiede. Da lohnt es sich, einmal ganz genau nachzufragen, wovon die Leute wirklich leben. Denn auch die Business-Class-Bohemiens können nicht hexen, hinter ihrer Sorglosigkeit steckt dann doch oft die Immobilie, der Börsengewinn, das Erbe, die Eltern. Doch wünschen wir uns nicht alle hin und wieder, irgendeine liebe Institution würde uns eine bescheidene aber ausreichende monatliche Apanage überwiesen, eine kleine Anerkennung für unsere Kulturleistungen, unsere Werke, unser Dasein? Aber weil wir die Grundsicherung und das Bürgergeld wohl nicht mehr erleben werden, bleibt uns als Gegenwart und Zukunft der Arbeit eben der Jobcocktail – glückliche Teilzeit. Sommerhaus, später, Callcenter, jetzt.

Christiane Rösinger ist Gründerin, Sängerin und Texterin der Berliner Band Lassie Singers und der Nachfolgeband Britta. In den 90er Jahren war sie eine der Betreiberinnen der legendären „Flittchenbar“ am Berliner Ostbahnhof. Rösinger schreibt Kolumnen und andere Beiträge für verschiedene Zeitungen und Magazine, darunter taz, Tagesspiegel, Berliner Zeitung und Frankfurter Allgemeine Zeitung. Im Frühjahr 2008 erschien ihr erstes Buch unter dem Titel „Das schöne Leben“.
 
30. Mai 2008, 11.00 Uhr
Christiane Rösinger
 
 
Fotogalerie:
{#TEMPLATE_news_einzel_GALERIE_WHILE#}
 
 
 
Mehr Nachrichten aus dem Ressort Kultur
Von frechen Arbeiten für „Hinz & Kunz“ bis hin zum Hörzu-Markenzeichen Mecki: Das Museum für Kommunikation widmet Comiczeichner und Maler Volker Reiche ab sofort eine eigene Werkschau.
Text: Gregor Ries / Foto: Bernd Kammerer
 
 
 
 
 
 
 
Ältere Beiträge
 
 
 
 
26. April 2024
Journal Tagestipps
Pop / Rock / Jazz
  • Eläkeläiset
    Zoom | 19.00 Uhr
  • Bändi meets Sara D' Ajello
    Netzwerk Seilerei | 20.00 Uhr
  • Stephan Sulke
    Comoedienhaus Wilhelmsbad | 20.00 Uhr
Nightlife
  • GurLZzz Party Frankfurt
    Orange Peel | 22.00 Uhr
  • F*** L'Amour
    Gibson | 23.00 Uhr
  • Music Hall Party
    Dorian Lounge – Airport Club | 21.00 Uhr
Klassik / Oper/ Ballett
  • hr-Sinfonieorchester
    Alte Oper | 20.00 Uhr
  • Philharmonisches Staatsorchester Mainz
    Staatstheater Mainz | 20.00 Uhr
  • Idomeneo
    Stadttheater | 19.30 Uhr
Theater / Literatur
  • Der Fall Medea
    Hessisches Staatstheater Wiesbaden, Wartburg | 19.30 Uhr
  • Phädra, in Flammen
    Schauspiel Frankfurt | 20.00 Uhr
  • Stephan Roiss
    Romanfabrik | 19.30 Uhr
Kunst
  • ISO 5000 Award Fotopreis
    Kulturzentrum Englische Kirche | 19.00 Uhr
  • Gunilla Jähnichen
    Hübner + Hübner | 18.00 Uhr
  • Anton Corbijn
    Anita Beckers | 19.00 Uhr
Kinder
  • Die kleine Zauberflöte
    Papageno-Musiktheater am Palmengarten | 16.00 Uhr
  • Oma Monika – Was war?
    Staatstheater Mainz | 11.00 Uhr
  • Ich zeig' dir meine Sprachwelt
    Stadtteilbibliothek Sindlingen | 16.00 Uhr
und sonst
  • CiderWorld Frankfurt
    Gesellschaftshaus Palmengarten | 14.00 Uhr
  • Craft Festival
    Goethe-Universität, Casino | 18.00 Uhr
  • Genuss- und Gartenfest Rhein-Main
    Schloss Heusenstamm | 15.00 Uhr
Freie Stellen