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Foto: Dirk Ostermeier
Foto: Dirk Ostermeier

Gespräch mit Julia Bernstein

„Emotional kostet mich das enorme Anstrengung“

Die Soziologin Julia Bernstein ist Professorin an der Frankfurt University of Applied Sciences. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist Antisemitismus. Dem JOURNAL FRANKFURT hat sie erzählt, wie Juden in Deutschland Antisemitismus erleben. Und dass die Ergebnisse ihrer Forschung sie fassungslos machen.
JOURNAL FRANKFURT: Frau Bernstein, im Auftrag des Bundestags führten Sie vor einem Jahr mit Bielefelder Kollegen die Studie „Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus“ durch. Darin wurden Juden zum ersten Mal zum Thema Antisemitismus in Deutschland befragt.

Julia Bernstein: Bis zu diesem Zeitpunkt wurde nur über, aber nie mit Juden gesprochen. Was dieses Thema angeht, galten Juden als übersensibel und nicht objektiv genug. Es bedurfte einiger antisemitischer Vorfälle in Berlin, um das Problem Antisemitismus via Medien wieder in die Wahrnehmung der Öffentlichkeit zu rücken. Aus Sicht der Betroffenen nimmt judenfeindliches Verhalten in Deutschland zu. Und nicht nur, wie oft behauptet wird, von Muslimen. Sondern gesellschaftsweit. Aus jüdischer Sicht war Antisemitismus hierzulande nie weg.

Wie äußert er sich? Können Sie ein Beispiel machen?

Ich habe im Laufe meiner Forschungsarbeit unzählige Geschichten gehört. Eine fällt mir ein, die hat mich besonders mitgenommen. Eine Frau erzählte mir, dass sie in ihrem Schrebergarten das Gartenhäuschen strich und der Nachbar zu ihr sagte, dass es dafür in Deutschland eine kostenpflichtige Genehmigung brauche. Dann deutete er auf den Schornstein mit den Worten: Und das ist für Sie kostenlos. Solche Erlebnisse sind der Grund, dass Juden in Deutschland in der Öffentlichkeit kaum noch jüdische Symbole tragen.

In der genannten Studie haben Sie festgestellt, dass Antisemitismus am häufigsten in der Schule stattfindet.

Ja. In einer zweiten, kürzlich erschienenen Arbeit mit dem Titel „Mach mal keine Judenaktion!“ habe ich Antisemitismus gezielt im Schulkontext erforscht. Die Resultate haben mich schockiert: Ich hatte in Deutschland, 73 Jahre nach der Shoah, nicht mit diesem Ausmaß gerechnet – an Hakenkreuzen, Hitlergrüßen, Vernichtunsrhetorik. Antisemitismus, das ergab die Studie, ist an deutschen Schulen Normalität. „Du Jude“ ist auf Pausenplätzen eine der häufigsten Beschimpfungen. Und die Lehrer schreiten nur selten ein. Weil sie antisemitische Äußerungen häufig nicht erkennen oder sie bagatellisieren.

Wie kann es sein, dass antisemitische Äußerungen nicht erkannt werden?

Das sind zum Beispiel solche, die „nicht böse gemeint“ sind, etwa die unreflektierte Verwendung der Alltagsphrase „bis zur Vergasung“. Für Juden ist das schwer zu ertragen. Oder Kritik an Israel, die sich nicht argumentativ fundiert auf konkrete Akteure bezieht, sondern darauf abzielt, die Existenzberechtigung Israels gesamthaft in Frage zu stellen. Kein anderes Land der Welt muss das hinnehmen. Wurde nach dem Holocaust etwa gefragt, ob Deutschland das Recht hat zu existieren?

Dabei glauben hierzulande doch viele Menschen, der Antisemitismus sei überwunden.

Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit hat in Deutschland nicht ausreichend stattgefunden, bei weitem nicht. Meine eigenen Studenten führen mir das regelmäßig vor Augen. Eine Studentin erzählte mir einmal begeistert, dass ihr Opa ein Held sei. Er habe sein Leben riskiert und heimlich eine Jüdin in seiner Kutsche durch das Dorf gefahren. Ich fragte: Wohin hat er sie gefahren? Und sie sagte: Zum Bahnhof. Da merkte sie erst, dass irgendetwas nicht stimmt.

Unglaublich.

Geschichten wie diese halten sich hartnäckig in Familien. Man möchte nicht glauben, dass die Vorfahren mitschuldig waren am Verbrechen. Weil das Thema emotional zu nahe geht, wird es totgeschwiegen. Ich versuche, eine geeignete Sprache zu finden, um darüber zu reden. Ich versuche die Kommunikation vorsichtig zu öffnen und eine Atmosphäre zu schaffen, in der Vertrauen auf- und Fassaden abgebaut werden können.

Wie gehen Sie persönlich damit um?

Emotional kostet mich das enorme Anstrengung. Die Ergebnisse meiner Forschung machen mich fassungslos. Dass ausgerechnet Deutschland so wenig aus der Geschichte gelernt hat. Dass die Leute sagen: Das betrifft mich nicht. Sie verstehen nicht, dass dadurch ihre demokratische Gesellschaft vergiftet wird. Gewalt, auch kommunikative Gewalt, betrifft jeden. Trotzdem bin ich positiv eingestellt. Ich erlebe die Menschen als sehr interessiert. Und als sehr ängstlich und überfordert. Deshalb ist es wichtig, über Antisemitismus zu sprechen, die Verkrampfung, die auf deutscher wie auf jüdischer Seite bestehe, zu benennen. Es geht mir nicht um Schuldzuweisungen. Sondern darum, dass sich die Leute eingestehen, dass es auch in der eigenen Familie Mitläufer gegeben haben könnte. Und dass sie alles dafür tun, dass sich die Gräuel der Vergangenheit nicht wiederholen. Empathie, gesellschaftliche Verantwortung, Zivilcourage: Das ist das Mindeste, was ich erwarte.

Das Gespräch führte Isabel Hempen.

Prof. Dr. Julia Bernstein, 46, ist Soziologin und hat seit 2015 eine Professur für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft an der Frankfurt University of Applied Sciences inne. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist Antisemitismus.

Das Interview mit Julia Bernstein erscheint als Teil unserer Reihe „Gesicht zeigen! Warum Antisemitismus und Rassismus in Frankfurt keinen Platz haben“. Wir veröffentlichen an dieser Stelle Gespräche mit verschiedenen Akteuren, die sich im Kampf gegen Diskriminierung engagieren. Die aktuelle Print-Ausgabe des JOURNAL FRANKFURT widmet sich diesem Thema in einer 22-seitigen Porträtstrecke.
 
18. Februar 2019, 08.33 Uhr
Isabel Hempen
 
 
Fotogalerie:
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