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Foto: Dirk Ostermeier
Foto: Dirk Ostermeier

Flüchtlingsheim: Neckermann macht’s möglich

Die Wahrheit liegt in der Mitte

Seit Mitte Dezember wird das Verwaltungsgebäude des einstigen Versandhauses Neckermann als Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge genutzt. Ein Presserundgang sollte nun die von Welcome Frankfurt geübte Kritik ausräumen.
Von einer sich anbahnenden menschlichen Katastrophe an der Hanauer Landstraße hatte das Bündnis aus Flüchtlingshelfern, „Welcome Frankfurt“, in einem offenen Brief gesprochen. Darin wurde vieles an der zweitgrößten Erstaufnahmestelle Hessens, die seit Mitte Dezember auf dem Fechenheimer Gewerbegebiet in Betrieb ist, kritisiert.

Das klang skandalös, sorgte für Aufsehen und einfach überprüfen ließen sich die Vorwürfe nicht. Weil die Privatsphäre der Flüchtlinge geschützt werden soll, ist der Zutritt nicht ohne vorherige Anmeldung möglich, sagt das Regierungspräsidium Darmstadt. Einige Medienanfragen wurden in der Vergangenheit jedenfalls abgelehnt. Aufgrund der Negativschlagzeilen organisierte das Amt nun aber einen straffen Medienrundgang durch das einstige Bürogebäude.

1572 Menschen, darunter 455 Kinder, dürfen bis zu zwölf Wochen lang auf drei der insgesamt sechs Etagen bleiben bis sie auf die Kommunen verteilt werden. Sie wohnen teilweise in Zimmern mit 50 Betten. Kapazitäten habe man für bis zu 2000 Flüchtlinge, sagt Regierungspräsidentin Brigitte Lindscheid.

Ein Baumarkt, ein Möbelhaus, Parkplätze sonst gibt es wenig Attraktionen rund um das ehemalige Verwaltungsgebäude von Neckermann, in dem einst 3500 Menschen arbeiteten. Die Security von Pond verteilt am Eingang pinke Warnwesten mit der Aufschrift „Visitor“, im Unterschied etwa zu grünen Westen, wie sie „Social Worker“ tragen. Die rund zwanzig Kameramänner, Fotografen und Journalisten sind deutlich als Außenstehende zu erkennen. Wir steigen die Stufen hinauf in den dritten Stock, unterwegs Hinweisschilder auf Arabisch, Farsi und Urdu: Das Rauchen ist verboten, Gewalt auch, das werde der Polizei gemeldet und habe den Hausverweis zur Folge, heißt es.

„Die Vorwürfe von Welcome Frankfurt wundern mich sehr, zumal man nie mit uns gesprochen hat“, sagt Brigitte Lindscheid. In einer entkernten Etage mit dem Charme eines Parkhausdecks wurden aus Pressholzplatten spartanische aber funktionale Duschkabinen gezimmert, an den Waschbecken fehlen Spiegel. „Wir haben 200 Duschen eingebaut, getrennt für Frauen und Männer“, erklärt Lindscheid. Ein Boilersystem sorge für Warmwasser, doch wenn der Tank leer sei, dauere es eben etwas, bis Nachschub käme. „Am roten Licht an der Tür erkennt man, wenn kein warmes Wasser mehr da ist“, sagt Lindscheid, das kenne man doch auch vom Hotel. Nun ja. Beim Besuch wurde eine Dusche ohne Rotlicht getestet, das Wasser war klar und zunehmend warm. Anders als von den Kritikern behauptet, die von kaltem, gelben Wasser sprachen, das Juckreiz verursache.

Traurig ist der Anblick der restlichen dritten Etage, die auf Schildern als „Kinderplanet“ angekündigt werden. Eine Freifläche wurde mit Barrieregittern umzäunt und darin fahren Kinder mit dem Tretroller oder dem Rad auf einem Parcours, ein paar Jungs und Social Worker kicken. Immerhin ein Zeitvertreib für gelangweilte Jugendliche. „Das ist ein neues Projekt, damit die Kinder etwas Auslauf bekommen“, sagt Florian Reisberg, von der verantwortlichen Organisation, dem Arbeiter Samariter Bund (ASB). Vieles im Heim ist funktional, nicht schön. Aber immerhin. Anerkennenswert ist die logistische und menschliche Leistung: 28 Sozialarbeiter, 34 Personen vom Orgateam und vier Leiter, zwei Ehrenamtskoordinatoren und 25 Ehrenamtliche sind hier tätig – und von der Kritik erschüttert.

Die Journalistengruppe wird zügig weitergeschickt, Zeit für Gespräche mit Flüchtlingen gibt es kaum, später wolle man noch ein Flüchtlingszimmer zeigen, doch erstmal geht es rasch in die einstige Neckermannkantine, wo die WISAG-Tochter Schubert Speisenversorgung mit der Essensverteilung begonnen hat. Ein Gericht steht mittags zur Wahl: Hähnchen, Reis und Bohnen, serviert auf Partypapptellern mit Plastikgeschirr. Dazu gibt es Obst oder Joghurt als Dessert. Die Kritik vom Welcome Frankfurt: Man werde von den kleinen Portionen nicht satt, es gebe keinen Nachschlag, zu wenig Obst. Das weist der Gastronomieleiter Christoph Plück von sich. Die Mahlzeitengröße und Kalorienmenge entspreche den Vorgaben der Deutschen Ernährungsgesellschaft, wer Nachschlag fordere, erhalte ihn. Doch: Wer nachher merkt, dass es nicht reicht, habe Pech.

„Das ist doch wie bei Ihnen in der Kantine“, sagt Brigitte Lindscheid. Wobei der Vergleich hinkt. Die Schlange an der Essensausgabe wird immer länger, Ordner koordinieren die Wartenden. Die Flüchtlinge sitzen auf Bierzeltgarnituren. 750 Personen haben gleichzeitig hier Platz. Von 8 bis 10, von 12 bis 14 und von 17 bis 20 Uhr sind die Essensausgabezeiten. Bald wolle man nach den Rezepten der Flüchtlingen, die aus rund zwölf Nationen stammen, kochen, sagt Plück. Es gebe regelmäßig Kontrollen vom Gesundheitsamt.

In der Kantine wie auch sonst in der Unterkunft versteht man die Kritik nicht. „Es geht für so viele Nationen und Menschen auf kleinem Raum friedlich zu. Rangeleien gib es im Stadion ja auch“, sagt Florian Reisberg. Weiter geht es zur Wäscherei, mit 20 Waschmaschinen und Trocknern. In grünen Säcken gibt man Wäsche hier ab, in eineinhalb Tagen ist die saubere Wäsche abholbereit. Acht männliche Flüchtlinge verdienen sich freiwillig hier 1,05 Euro pro Stunde als Wäscher dazu. Auch die Kritik an der medizinischen Versorgung stimme nicht, klärt Mediziner Leo Latasch auf. 100 Ärzte habe man unter Vertrag, auch bis zu 18 Kinderärzte, medizinische Versorgung sei täglich zwei Stunden lang verfügbar, ganz anders als etwa bei der Versorgung der Obdachlosen, die kaum ärztlichen Beistand hätten.

Dass manche Flüchtlinge aber auch zum Augen- oder Zahnarzt müssten, sei was die Terminvergabe angehe, so schwierig wie bei anderen Bürgern auch. Darminfekte und Erkältungen würden sich bei so großen Menschenansammlungen schneller verbreiten, sagt Herr Latasch. Seit dem 18. Dezember habe es 1365 Erstaufnahmekontakte im Medical Point gegeben, sagt Heiner Kamphausen vom ASB.

Die Türen zu manchen Zimmern stehen auf, manchmal schauen Männer heraus und kleine Kinder winken belustigt den Passanten in pinken Westen. In die Zimmer dürfen wir nicht, die Bewohner seien ja jetzt beim Essen, da lasse man niemanden hinein, heißt es. Sichtbar aber sind blaue Planen, die an den Etagenbeten befestigt sind, um wenigstens etwas Intimität zu erzeugen. Überhaupt erscheint die Unterbringung in den kahlen Bürofluren recht trostlos.

Dass es anders geht, zeigt ein behängtes Klassenzimmer, wo der US-Amerikaner Keith Williams die kleinen Schüler unterrichtet. „Das ist ein Fahrrad“, sprechen sie ihm aus vollem Hals auf Deutsch nach. Und bis zehn zählen sie auch. Zwei Stunden Unterricht täglich versuchen ehrenamtliche Lehrer im Heim zu ermöglichen. Nebenan im Spielzimmer sieht es ebenfalls behaglich aus, ganz anders noch als im Aufenthaltsraum mit zwei Tischkickern und einem Fernseher. In einem Raum mit Wi-Fi-Hotspot sitzen Männer mit dem Handy in der Hand auf dem Boden. Ein Internetcafé soll entstehen, Google habe 48 Laptops gesponsort, sagt Reisberg. Es hapere nur an dem Schlosssystem, mit dem man die Rechner diebstahlsicher an den Tischen befestigen könne. Vieles ist noch im Aufbau, hat eher provisorischen Charakter. Aber es werde zunehmend mehr an Freizeitgestaltung geboten, sagt Reisberg, so auch Frauenspaziergänge.

Funktionstüchtig ist die Kleiderkammer, die mit Kleiderständern an ein Warenhaus erinnert. Hosen und Hemden, alles sortiert. Es fehle an kleinen Größen, auch bei Schuhen, sagt Monika Freitag. Anastasia Nimmer vom Sicherheitsunternehmen bekräftigt zum Schluss der Tour, dass ihre Mitarbeiter über eine interkulturelle Kompetenz verfügten, sie würden aus 67 Ländern stammen, das spräche für sich. Und natürlich gelte es für Ordnung zu sorgen, und wenn Regeln wie der Brandschutz gefährdet seien, dann müsse man das deutlich mitteilen. “Aber freundlich!“ Besondere Vorkommnisse müssten gemeldet werden, Vorwürfe, dass Securitymitarbeiter Flüchtlinge schlecht behandelten oder gar rassistisch seien, seien abwegig.

Nach etwas über zwei Stunden ist der Rundgang durch zwei von drei Etagen beendet. Skepsis bleibt, auch wenn der Gesamteindruck gut ist. Aber einmal durchlaufen oder zwölf Wochen mit knapp 1600 Menschen verschiedener Herkunft tatsächlich unter einem Dach schlafen, das sind schon zwei verschiedene Welten. Ein Flüchtling aus Afghanistan, von Beruf Fotograf und Journalist, dessen Familie bei der Flucht auseinandergerissen wurde, sagt zu uns auf Englisch: „Das Essen hier ist nicht das Problem. Sie können auch von einem Laib Brot satt werden. Aber die Perspektivlosigkeit, die lässt einen seelisch verhungern.“

Welcome Frankfurt hat unterdessen angekündigt, in dieser Woche vor der Unterkunft mit Flüchtlingen das Gespräch zu suchen.
 
4. Februar 2016, 11.39 Uhr
Nicole Brevoord
 
Nicole Brevoord
Jahrgang 1974, Publizistin, seit 2005 beim JOURNAL FRANKFURT als Redakteurin u.a. für Politik, Stadtentwicklung, Flughafen, Kultur, Leute und Shopping zuständig – Mehr von Nicole Brevoord >>
 
 
Fotogalerie: Neckermann-Flüchtlingsheim
 
 
 
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