Der Tag, als im städtischen Zugverkehr die Lichter ausgingen

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Andreas Dosch /

Herr P.Herr P. fährt Bahn

Herr P. wurde um 8 Uhr wach und fühlte sich entspannt. Der 14-tägige Odenwaldurlaub war eine Wohltat gewesen. Als Herr P. an diesem Augustmontag seine Wohnung verließ, um endlich wieder die Tageszeitung aus dem Briefkasten zu holen, vernahm er folgenden Laut: „Uuuiiii!“ Es waren nicht die Amseln. „Horst?“, hauchte Herr P. in den Frankfurter Morgen. „Sind Sie das?“ Gut viereinhalb Meter vom Briefkasten entfernt lag er, Horst, der Zeitungsausträger. Er hatte sich die leere Umhängetasche über den Kopf gestülpt, zwei Augen hineingeschnitten und war sternhagelvoll. Geistesgegenwärtig eilte Herr P. in seine Wohnung, bestellte den Notarzt, der Rotkreuzwagen kam, nahm Horst, der lauthals „Petra, du Schlampe!“ skandierte, in Gewahrsam, und Herr P. erkundigte sich, ob er bis zum Hauptbahnhof mitfahren dürfe. Dort mit Blaulicht angekommen, machte er sich auf den Weg zur S-Bahn. Als er über einige ausgemergelte Langzeitarbeitslose stieg, bot sich ihm ein ungewohntes Bild: Die Züge fuhren nicht. „Was ist denn hier los?“, fragte Herr P. eine Dame, die in ihrer Uniform sehr öffentlich wirkte. „Dieser Streckenabschnitt ist wegen der Erneuerung von 30 Weichen im S-Bahn-Tunnel gesperrt. Wir bitten um Ihr Verständnis“, nuschelte die Dame, und: „Lesen Sie denn keine Zeitung?“ Na, dachte Herr P., dann laufe ich eben. Der Weg durch den Tunnel war lang. Herr P. grüßte die Bauleute freundlich, legte Hand an, wo es nötig war, tauschte seinen Hut mit dem Helm eines freundlichen kroatischen Schwarzarbeiters und trank sogar einen Schluck Bier. An seiner Station angekommen, bahnte sich Herr P. mühsam den Weg über eine Gruppe im Weg lungernder Hartz-IV-Empfänger ins Freie, bis er schließlich das Café Hauptwache erreichte. Dort bot sich ihm abermals ein ungewohntes Bild. Neben dem altehrwürdigen Kaffeehaus klotzte eine Baustelle, auf der gerade ein, wie Herr P. fand, äußerst unansehnlicher Pavillon hochgezogen wurde. „Was ist denn hier los?“, fragte er einen illegal aus Offenbach eingereisten Bauarbeiter. „Hier kimmt für annerdhalb Jahr de Juwelier Wempe nei. Die saniere des Allianzhaus, die feine Pinkel. Ei, lese Sie denn kaa Zeidung?“ „Na, Hauptsache, Sie haben was zu tun“, seufzte Herr P., schenkte dem armen Mann seinen Helm, ging zum Café Hauptwache, trat ein, es roch nach Kräutertee, und machte die Tür hinter sich zu.

Erschienen am 8. August 2006 in der Print-Ausgabe des Journal Frankfurt; Illustration: Stephan Rürup


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