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Vom Tango zur Cumbia – Resistance and Change

Bis zum 4. Juli 2009 war Argentinien für mich farblos, ein Schwarzweißbild oder vielleicht noch nicht mal ein Bild, sondern eher eine Collage voller Licht und Schatten, ein Oberschenkel der unter dem, vor lauter Eifer hochgerutschten Rock heraus blitzt, der Geruch nach Pomade und Schweiß, lauter, fast schnaufender Atem, ein Mann und eine Frau, ein Spiel, in dem man umgarnt, lockt, abblockt, ein Gefühl, ein Begehren, eine Sehnsucht, die immer und immer stärker wird, eine Träne, die mir über die Wange rinnt, ein Verlangen, das heftiger wird, eine Musik, bestehend aus Akkordeon, Gitarre und Saxophon, die mitreißt, mich atemlos da stehen lässt Tango. Argentinien bedeutete Tango und nichts als Tango. Für anderes gab es in meinem Argentinien keinen Platz. Maradona und seine Hand Gottes existierten nicht, eine Militärdiktatur hatte es nie gegeben, keine Wirtschaftskrise, keine Evita nichts, nur Tango.

Den argentinischen Alltag habe ich eine Zeit lang mit gelebt. Auf der anderen Seite war ich nur Zuschauer, von der Realität einer ganz anderen Gesellschaftsschicht trennten mich eine Kamera und ein Mikrofon, Impressionen wurden eingefangen, Meinungen abgefragt und aufgenommen, ob sie dennoch gehört worden sind, unsicher oder sogar fraglich. Ich habe gesehen, dass eine Unterschicht existiert, die längst zur Mittelschicht geworden ist, zur breiten Masse, die teils resigniert, teils streikt, aufgrund gestiegener Wasser-, Gas-, Elektrizitäts- und Lebenskosten, aufgrund von Pressezensur, Landenteignung und Arbeitslosigkeit. Doch sehen und leben ist ein eklatanter Unterschied. Und so musste ich einsehen, dass auch die Realität nicht Wahrheit ist, sondern immer nur eine Wahrheit von vielen und dass man mehrere, so viele Wahrheiten, Blickwinkel und Ansichten braucht, um zu verstehen und vielleicht auch um wirklich zu sehen. Meine Wahrheit ist mir zu wenig. Doch was klärt den Blick, macht weitsichtiger, dünnhäutiger und abgeklärter zugleich?

Wenn ich weiter reisen, mehr sehen möchte, lese ich. So bietet sich mir nach meinem Sinne die Möglichkeit, die Welt anders wahrzunehmen und eine neue Wahrheit kennenzulernen. Bis im Oktober endlich die Buchmesse eröffnet – dieses Jahr mit Argentinien als Gastland - ist mir Washington Cucurto dabei eine große Hilfe und bietet einen Vorgeschmack auf das, was uns erwartet. Der argentinische Skandalautor, geboren in Quilmes, einem Armenviertel in Buenos Aires, legte mit dem Fahrrad tausende von Kilometern zurück, von Supermarkt zu Supermarkt, um sein Überleben zu sichern, als mobiler Regalauffüller. Sei es Zufall oder Schicksal, Talent oder Fleiß heute schreibt Cucurto zwischen Bewunderung und Hass, Literatur und Schund. Und er ist da, um dem Rest der Welt seine Welt und die Menschen, die darin ein- und ausgehen, näher zu bringen. Sein Argentinien, ist schmutzig, auf verschiedene Weisen: Sex, Gosse, Kultur und Cumbia, ein ursprünglich aus Kolumbien stammender Tanz, der zum Überbegriff für einen Lebensstil, der von seiner Musik geprägt wird, geworden ist, werden so wild miteinander vermischt, dass ein regelrechter Strudel entsteht, ein Orkan, der durchmischt, aufrüttelt und neu ordnet.

Nicht überall in Argentinien will man dieser Wahrheit des Cumbia ins Auge sehen, sonst hätte eine öffentliche Bibliothek Cucurtos Gedichtband Zelarayan nicht auf den Bürgersteig verbrannt, sie als pornographisch und rassistisch gebrandmarkt. Er erzählt von Dicke(n), perverse(n) Verkäufer(n), die ihre Töchter feilbieten, als wären sie Unterwäsche. Cucurto macht Argentinien nicht zur dritten, sondern zur vierten Welt, die vom europafixierten Argentinien ignorierte Unterschicht bekommt eine Stimme und auch ein Gesicht. Man kann sie endlich sehen. Heruntergekommene Cafés, Straßenverkäufer, einen Mann, der auf dem Gehsteig campiert, habe ich gesehen, weinende Kinder, Familien, zwanzig Familien, die einem reichen Unbekannten sein unbenutztes Land enteignen, um mit Paketschnur und kleinen Stücken das Grundstück in viele kleine Grundstücke umzufunktionieren, erschreckend kleine Grundstücke, so groß wie mein komplettes WG- Zimmer, größenwahnsinnig und bescheiden zugleich. Schockierend und doch interessant, je mehr ich lerne, desto mehr will ich wissen und bedaure es fast, nicht Teil dieser Welt zu sein, wie unglaublich eigentlich, wenn man bedenkt, wie gut wir es haben, will man doch ständig ein anderer sein, woanders sein, ich jedenfalls, jedenfalls in Argentinien.

Cucurto stellt eine immer größer werdende, weiter anwachsende Gesellschaftsschicht und ihre Meinung dar, legt sie der restlichen Welt nah und macht sie verstehen. Außerdem bietet er den Cartoneros von Buenos Aires– Arbeitslose, die Altpapier auf den Straßen sammeln und verkaufen – eine Perspektive, denn die Buchdeckel der Publikationen seiner verlagkooperation „Eloisa Cartonera“ werden jeweils indivuduell aus dem gesammelten Altpapier hergestellt und bunt bemalt wird – eine Kunst für sich. Die Grenzen zwischen Literatur und Bildender Kunst sind fließend.
Eloisa Cartonera präsentiert sich bis zum 31. Oktober gemeinsam mit 12 anderen argentinischen zeitgenössischen Künstlern in der Austellung „Tales of Resistance and Change. Artists from Argentina“, die gemeinsam präsentiert vom Frankfurter Kunstverein und der Botschaft der Republik Argentinien in Deutschland wird.

Text: Caroline Brendel

Wie Argentinier in Frankfurt leben, lesen Sie im aktuellen Journal Frankfurt (Facelifting fürs Museumsufer, Ausgabe 18/2010).
 
23. August 2010, 12.50 Uhr
Redaktion
 
 
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