Ein fast einhundert Jahre altes Foto zeigt den ruhelosen Maler Edvard Munch im Selbstporträt. Das faszinierende Bild ist Teil der neuen Schirn-Ausstellung, die am Mittwochabend mit hohem Besuch eröffnet wird.
Grit Weber /
Nur wenige Zentimeter von sich entfernt hat er die Kamera aufgestellt. Es muss sich um die kleine Kodak handeln, die er bereits 1902 in Berlin erworben hat. Um selbst den Auslöser zu betätigen, hat er eine nicht eben bequeme Körperhaltung einnehmen müssen. Am rechten unteren Bildrand können wir noch die verwischten Konturen seines Arms ausmachen. Das ganze Bild ist aber vor allem deshalb so faszinierend, weil es trotz seines Alters auf uns so modern wirkt. Das Arrangement wirkt spontan, wir sehen den Maler in einem ziemlich privaten Moment. Weder er noch seine Umgebung sind für ein öffentliches Auge hergerichtet. Vielleicht hat er sich bewusst so abgelichtet, um diese Aufnahme später zu malen. Denn Edvard Munch (1863–1944) ist als Maler der Klassischen Moderne und Wegbereiter der Expressionisten zu Weltruhm gelangt, nicht aber als Fotograf. Dass er aber schon früh und ziemlich häufig zum Fotoapparat griff, dürfte eine der überraschendsten Erkenntnisse sein, die wir ab den 9. Februar aus der großen Edvard-Munch-Ausstellung der Schirn mitnehmen werden.
Mit den heutigen Kameras ist es längst schon üblich geworden, sich selbst und die Freunde ganz nah vor die Linse zu holen. Ein Klick mit dem Auslöser – und wir können das Ergebnis sofort auf dem Display sehen. Aber 1908, als Edvard Munch dieses Foto machte, war das Fotografieren noch sehr viel aufwendiger. Das Material war längst nicht so lichtempfindlich wie heute. Oft mussten die Apparate auf einem Stativ stehen und die Person vor dem Objektiv durfte sich nicht bewegen. Wenn das Negativ dann endlich belichtet war, musste es auf einem Spezialpapier abgezogen werden, und zwar nur in dem Format, in dem der belichtete Film vorlag. Vergrößerte Abzüge waren technisch erst 1924 möglich. Auch der Rollfilm wurde erst dann auf den Markt gebracht, der mehrere Aufnahmen in sehr kurzer Zeit hintereinander ermöglichte und die Fotoapparate endlich handlicher machte. Munchs Abzug hier misst gerade mal 8 bis 9 cm. Größere Aufnahmen erforderten größere Apparate und größere Fotoplatten.
Edvard Munch hat dieses Selbstporträt mit dem Titel „ A la Marat“ versehen. Er bezieht sich damit auf ein sehr berühmtes Gemälde von Jacques-Louis David, das den in einer Badewanne getöteten politischen Schriftsteller der Französischen Revolution Jean-Paul Marat zeigt. David malte den toten Marat als Märtyrer. Wir können nur spekulieren, ob sich Munch auch wie der Märtyrer Marat fühlte oder den Titel ironisch verwendete. Zumindest litt Munch Zeit seines Lebens an einer manisch-depressiven Störung, die ihn häufig in schwere Krisen stürzte. Trotzdem war er bis ins hohe Alter sehr produktiv und schuf ganz herausragende Beispiele einer auf das empfindende Individuum zielenden Malerei. Unser Dokument hier zeigt den Künstler in der Kopenhagener Nervenklinik von Dr. Jacobson und ist zusammen mit etwa 50 weiteren fotografischen Originalabzügen und vier kurzen Filmen in der Ausstellung zu sehen, die den modernen Blick Edvard Munchs zusammen mit etwa 80 Gemälden und Grafiken zu einem der Ausstellungshighlights der ersten Jahreshälfte macht.
Eine Version dieses Textes erschien zuerst im Journal Frankfurt, Ausgabe 4/2012 vom 31.1.2012