Katharsis ist die Reinigung der Seele von destruktiven Kräften durch ihre Freisetzung. Musik ist eine der Kräfte, die zur Katharsis führen kann. Das klappt nicht immer. Mit Walls of Jericho gab es eine Band zu sehen, für die der Begriff hätte erfunden werden müssen.
Sechs Bands sind in die Batschkapp gekommen, um die „Hell On Earth“ zu verbreiten, eine Festivaltour, die seit 2005 Europa heimsucht. Die Bands bewegen sich stilistisch allesamt in einem Bereich zwischen (Death) Metal und Metal-lastigem Hardcore.
Der beflissene wie naive Autor kommt kurz nach dem angekündigten Beginn, um auf jeden Fall die erste Band Stick to Your Guns zu sehen, und stellt dann fest, dass es doch besser gewesen wäre, zur Einlasszeit zu erscheinen. Stick to Your Guns haben nämlich schon gespielt. Ärgerlich.
Neben vielen schwarz gekleideten Langhaarigen laufen hier auch viele schwarz gekleidete Kurzhaarige herum. Ein sicheres Zeichen, dass Metalcore auf dem Programm steht. Böse blickende Jungmänner mit Tätowierungen und Metallteilen im Gesicht füllen den Saal. Widerstand ist zwecklos. Der Autor drückt sein weißes T-Shirt unauffällig unter sein Hemd, holt sich ein Bier und guckt böse in die Runde, um nicht aufzufallen. „Alter Sack!“, antworten die bösartigen, wissenden Blicke der anderen. Prompt verschluckt sich der Autor.
Die zweite Band des Abends, Animosity, legt gleich ordentlich los. Die Musiker sind alle noch recht jung und sehen nach Oberstufe aus, spielen sich aber die Seele aus dem Leib. Technisch einwandfrei, mit einem geilen Schlagzeuger gesegnet, wie überhaupt alle Schlagzeuger an diesem Abend beweisen, dass Metalcore eine hervorragende Schulung ist. Ein Break jagt das nächste, technisch hochvertracktes Material, was man zum Teil mehr an den rasenden Fingern der Gitarristen sieht als aus dem gelegentlich doch breiigen Klang heraushören kann. Aber es fehlt etwas an Melodien und damit auch Identifizierbarkeit der Stücke, so dass nach einiger Zeit alles gleich klingt.
The Red Chord
The Red Chord beginnen mit einem atmosphärischen Intro vom Band und explodieren dann in einem Licht- und Lärmgewitter. Die Musik knallt zunächst amtlich, doch auch hier zeigt sich mit der Zeit die Austauschbarkeit der aus keiner innermusikalischen Logik heraus zusammengesetzten Passagen. Es gibt doch noch andere Methoden der Spannungserzeugung als die Abfolge von schnellen und langsamen Teilen ohne harmonischen oder rhythmischen Bezug zueinander. Technisch sehr anspruchsvoll, aber seelenlos. Die Publikumsreaktion ist denn auch eher verhalten. Erst allmählich fließen Grooves und identifizierbare Riffs in die Musik ein. Und als der Sänger, der aussieht wie direkt von den Marines engagiert und auch so agiert, „Come on, Motherfuckers!“ ins Publikum brüllt, kommt doch noch eine Mischung aus Circle Pit und „Violent Dancing“ zustande.
All Shall Perish
All Shall Perish liefern mehr identifizierbare Riffs und mehr Groove, die Gitarristen spielen gelegentlich auch mal ein Solo. Vorne sind die Metaller eindeutig in der Mehrheit, sobald die Band mit schweren Metal-Riffs zu grooven beginnt, fliegen die Matten, und die Köpfe nicken einhellig zu den rollenden Riffs. Und endlich gibt es die ersten richtigen Circle Pits.
Cataract
Cataract beginnen mit einem atmosphärischen Intro vom Band, um dann amtlich loszulegen. Die Musik ist wie geschaffen für Violent Dancing, das erstmals an diesem Abend von einer nennenswerten Zahl von Leuten praktiziert wird. Man stelle sich vor, 20 Leute stehen in einer Menge und beginnen, in einer Art von Vollkontakt-Karate mit voller Wucht wild um sich zu schlagen. Sehr sinnreich. Erstaunlicherweise gibt es keine blutigen Nasen, Nierenrisse oder eingeschlagene Schädel. Obwohl die Band sich sichtlich abmüht und mörderische Grooves in die Menge schickt, was erstmals sichtbar andauernde Publikumsreaktionen erzeugt und eine Welle von Circle Pits, bleibt die Masse verhalten. Offenbar wartet man auf die Hauptband, die wohl für den hohen Anteil an Hardcore-Fans im Publikum verantwortlich ist.
Dann ist die Zeit für den Headliner Walls of Jericho gekommen, und die Band zeigt vom ersten Moment an, dass sie zu Recht an dieser Stelle des Programms steht. Sie alleine hätte die Eintrittskarte schon gerechtfertigt.
Walls of Jericho
In einem Fan-Report zur Hell On Earth-Tour 2007 schreibt ein Fan: „Kann nur sagen, dass Walls of Jericho live alles und jeden an die Wand spielen.“ Ich war also vorgewarnt. Aber ich war nicht vorbereitet auf das, was dann geschah. Nach einem … ähem … atmosphärischen Intro springen die Bühnenscheinwerfer an und geben den Blick auf den Saal und die Bühne frei – wo sind nur all die Leute auf einmal hergekommen? Und auf der Bühne steht die Frontfrau Candace Kucsulain inmitten ihrer Band, aber sie scheint die ganze Bühne einzunehmen. Dann brüllt sie etwas ins Mikro, und mit dem Ausbrechen eines infernalischen Riffgewitters schwingt sie ihren Körper über die Bühne, als wollte sie alle Fesseln der Welt sprengen. Und das gesamte Publikum geht höllisch ab.
Innerhalb von Sekunden beginnt der Saal zu kochen wie unter Hochdruck. Leute erklimmen die Bühne und werfen sich in die Menge, die Band verschwindet hinter hochgeworfenen Armen (und Beinen!), zeitweise scheinen mehr Menschen in der Luft zu sein als auf dem bebenden Boden, während die Band Folge um Folge schwerer, Hardcore-lastiger Riffs in den Saal schleudert. Die ganze Band ist ständig in Bewegung, allen voran die agile Sängerin, die ständig den Kontakt zum Publikum sucht, das ihr willig aus der Hand frisst. Sie beschwört das Stage-Diving, während die Körper um sie herum von der Bühne fliegen, und ihre Aufrufe zum Circle Pit werden hundertfach beantwortet. Dutzende Leute springen auf die Bühne, tanzen dort, umarmen sich, springen in die Menge, wieder und wieder ruft Kucsulain zur Aktion auf, zu einer großen Party, in der aller Frust ausradiert wird – und die Meute reagiert wie verlangt.
Zu schnell hört das Ganze auf und wäre doch kaum länger zu ertragen gewesen. Die erschöpfte Band spielt eine Zugabe, deren Harmonien vom Publikum mitgesungen werden, dann gehen die Lichter an. Am Ende sind alle nass und glücklich. Keine bösen Blicke mehr, sondern ein breites Grinsen und eine selige Erschöpfung in den Gesichtern. Allen „fucking shit“ ausgetrieben – so muss das sein!