Reiz und Schmerz liegen im Grande Opéra nah beieinander.
Die Nacht des Korsetts: Eine Verlockung für jeden, der gern Schnürmieder, Dark-Wave-Outfits oder mittelalterlich angehauchte Gewänder trägt – oder der gern anderen beim Tragen zusieht. Als ich Freunden erzähle, dass ich alleine einen Maskenball im Grande Opéra, einem weit über die Grenzen des Rhein-Main-Gebiets hinaus bekannten Fetisch-Club in Offenbach, besuchen möchte, schwanken diese zwischen Neugierde und Entsetzen. Oho, sagen ihre Blicke. Fetisch! Alleine! Offenbach! Schon der Weg dorthin hat Unterhaltungswert. Beim Einsteigen in einen U-Bahn-Waggon, in dem bereits eine Gruppe spätpubertärer Teenies sitzt, werde ich von einem besonders mutigen Jungen provozierend angegrölt: „Die geht bestimmt auf 'ne Swinger-Party!“. Er entschuldigt sich sofort, es sei ja nur scherzhaft gemeint gewesen, aber mit meiner Maske könne man da durchaus hingehen … Der Gedanke scheint ihn jedoch nicht loszulassen, denn er kommt immer wieder darauf zurück. Unter heftigem Gekicher eines Mädchens in der Sitzreihe gegenüber teilt er schließlich mit, er werde dann später „hinzustoßen“.
„Die geht bestimmt auf eine Swinger-Party!“
In Offenbach geht es abenteuerlich weiter. Zwar kenne ich die Straße und Hausnummer, kann dennoch den Eingang nicht finden und irritiere vermutlich einige Anwohner, als ich im Lackkleid mehrmals die Hausreihe entlanglaufe. Nach einer Weile sehe ich glücklicherweise mehrere Damen in Korsagen und Herren in Anzügen aus einem Auto steigen und folge ihnen unauffällig. Der Anblick, der sich mir im Grande Opéra bietet, ist tatsächlich grandios. Unglaublich viele schöne Menschen in eleganter Abendgarderobe, an der zum Teil ? nach konventionellen Maßstäben ? ein wenig Stoff fehlt, sitzen dekorativ auf schwarzen Lederpolstern und ausrangierten Kirchenbänken, der gesamte Raum ist geschmackvoll eingerichtet und mit Kerzenschein ausgeleuchtet. Viele der Gäste scheinen sich zu kennen, geben sich hier ein keusches Küsschen und dort einen neckischen Knuff. Doch meine anfänglichen Bedenken, es sei eine schlechte Idee gewesen, allein herzukommen, werden bald zerstreut. In keiner Disco habe ich je so schnell Bekanntschaft mit fremden, freundlichen Menschen gemacht.
In guter Gesellschaft
Während ich mich damit abmühe, in dicken Schnürstiefeln halbwegs leichtfüßig über die Tanzfläche zu pendeln, hüstelt der Veranstalter ? dessen Name ich hier nicht nennen werde, er weiß, dass er gemeint ist ? vom DJ-Pult aus in sein Mikrofon, um eine Ansage zu machen. Seine Stimme tönt durch den gesamten Saal: „Anja Ruppel soll bitte zur Kasse kommen!“ Leider hab ich zu diesem Zeitpunkt bereits meine Maske abgelegt, man sieht mir also die Schamesröte ins Gesicht schießen. Ich warte eine, zwei Minuten und begebe mich dann möglichst gefasst in Richtung Ausgang. Dort entpuppt sich das Ganze als kleines Missgeschick. Eigentlich gab es nur den Auftrag, mich zu suchen, damit ich dem Betreiber des Grande Opéra vorgestellt werden könne, bei dem ich mich offiziell angekündigt hatte. Dass dabei ein marktschreierischer Aufruf durchs Mikro eingesetzt wurde, war nicht geplant. Andy Warhols 15 Minuten der Berühmtheit für jedermann fallen möglicherweise nicht immer so aus, wie man sie sich wünscht.
Bei einer kurzen Privatführung kann ich die übrigen Räumlichkeiten erkunden, in denen mit viel Fantasie und gelegentlich auch unter Schmerzen gespielt werden darf. Ich war nie ein Freund von Gesellschaftsspielen, aber Spiele in guter Gesellschaft … Über den Rest des Abends breite ich den Mantel des Schweigens.