Spaziergang mit Flimmern und Rauschen

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Esther Boldt /


Spaziergangswissenschaftler Bertram Weisshaar gibt den Startschuss zum Spaziergang durch den Grüngürtel.

Es sind manchmal die einfachen Dinge, die einfachen Fragen, auf die es ankommt. Etwa: „Wo und wie leben wir eigentlich?“ So gefragt von Martin Schmitz, Verleger und Spaziergangswissenschaftler. Die Wissenschaft mit dem humorigen Namen hat einen beinharten Hintergrund: In Städte- und Landschaftsplanung ist im Zuge von Industrialisierung, Technologisierung und nun Globalisierung die unmittelbare Raumerfahrung verschütt gegangen. Städte werden an Reißbrett und Schreibtisch entworfen, ohne eine vorhergehende analytische Bestandsaufnahme des eigenen Körpers in der Bewegung. Der ist, abgesehen davon, auch lange nicht Priorität gewesen. Die Spaziergangswissenschaften aber wollen nun die Städteplanung ein Stückweit hinterfragen, verändern, vielleicht gar revolutionieren. In den 1980er Jahren wurden sie von Lucius Burckhardt in Kassel begründet, am Wochenende trafen sich in seinem Erbe Architekten und Städteplaner auf dem Campus Westend, um sich auszutauschen.

Und lieferten mehr als ein plausibles Plädoyer dafür, dass die direkte Auseinandersetzung mit dem Raum, in dem wir leben, unersetzlich ist. „Herumstrolchende Analyse“ nannte der Leipziger Spaziergangswissenschaftler Bertram Weisshaar seine Methode, „und irgendwann tropft die Idee herunter.“ Er hat etwa in den 1990er Jahren Braunkohlereviere zu Landschaften erklärt, „Schönheit liegt im Auge des Betrachters“, und damit auch eine besondere Reflexion der eigenen (Industrie)Kultur angeregt – sie bringt eigene Landschaften hervor wie die Krater- und Hügellandschaften des Braunkohletagebaus mit ihrer eigenen Vegetation und ihrer eigenen Schönheit. In einem stillgelegten Tagebau legte Weisshaar einen Garten aus ortspezifischen Pflanzen an und führte Spaziergänge hindurch, die auch mal drei, vier Stunden dauerten. Nachher konnte manch einer die Pflanzenwelt dort besser lesen, und mit der körperlichen Erschöpfung ging eine Erkenntnis einher – in den bisher abstrakt großen Tagebau hat sich „der menschliche Maßstab“ eingeschrieben, so Weisshaar.


Ein Autowrack am Rande des Grüneburgparks soll fürs Carsharing werben – würden sich nur wenige Frankfurter Autos teilen, könnte man viele andere verschrotten, so die Theorie.

Zum Abschluss der Tagung und im Sinne einer „angewandten Wissenschaft“ führte Weisshaar einen Spaziergang durch Frankfurt an – durch das Westend, den Grüneburgpark, über den angeblich „schönsten Verkehrsknoten Deutschlands“ – und hob dabei auf die Frankfurterische Besonderheit ab: Den Verkehr. Allerorten rauscht und dröhnt es, sei es nun von Autos oder von Flugzeugen, gleich, wie viel Grün das Auge erblickt. Das haben wir schon vorher gewusst, eindrücklich war’s irgendwie trotzdem. Und natürlich geht es beim Spazieren im Grunde darum, was einen Ort ausmacht, ob und wie man sich mit ihm auseinandersetzt, mit ihm identifiziert – bei Frankfurt keine leichte Frage, wenn ein Großteil der hier Arbeitenden gar nicht hier lebt, sondern im berüchtigten „Speckgürtel“, und also gar nichts weiß von der Stadt außer seinem Büro und den Einfallsstraßen und Einflugschneisen, die ihn dorthin bringen. Ist Frankfurt mehr als ein Verkehrsknotenpunkt mit Skyline und ein bisschen Grün?


Die schönste Verkehrskreuzung Frankfurts - dieses zweifelhafte Prädikat trägt die Miquel-Kreuzung.

Und dann spaziert man durch das Frankfurter Westend, das einst ein umkämpftes Revier war, EINST möchte man schreiben – „es waren einmal, liebe Kinder und Kindeskinder, es waren einmal Hausbesetzer, die hatten einen Traum“ – Zeiten scheint es her zu sein, dass in diesen Straßen jemand die Vision von einem besseren Leben hatte. Nun hat man sich eingerichtet, Platanen rechts und links und den Palmengarten voraus, dazwischen Stehzeuge und das allgegenwärtige Rauschen des Verkehrs. In Berlin kämpft gerade die Poplinke des 21. Jahrhunderts um ihr Spreeufer, demonstrieren die Erben von SO36 für die Freiheit, die sie gewannen, für ihren Block, ihre Straße, ihr Viertel. Frankfurt sperrt seine schmiedeeisernen Tore ab und hängt Überwachungskameras dran, während die EZB eine weitere Brücke über den Fluss plant.


Der Ginnheimer Spargel - in Frankfurt erhebt sich Graues aus Grünem.

Fotos: Nils Bremer


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