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Sonderzüge in den Tod



Heute wurde um im Frankfurter Hauptbahnhof (1. Stock, Aufgang Höhe Gleis 17/18) die Wanderausstellung "Sonderzüge in den Tod – die Deportationen mit der Deutschen Reichsbahn" eröffnet. Die Rede des Kulturdezernenten Felix Semmelroth geben wir hier ungekürzt wieder.

Die im Oktober 1941 reichsweit begonnenen Deportationen aus den deutschen Städten leiteten das letzte Kapitel in der Entrechtung und Verfolgung der deutschen Juden ein, der ihre Ermordung in den Lagern und Ghettos des Ostens folgte. Seit 1933 hatte das nationalsozialistische Deutschland durch Terror und Gewalt ebenso wie durch Gesetze und Verordnungen den Druck auf die jüdische Bevölkerung ständig erhöht und bis 1939 viele zur Auswanderung gezwungen.

Nachdem die letzen Emigrationsmöglichkeiten verschlossen waren, sollten nun nach dem Willen der NS-Machthaber die noch in Deutschland verbliebenen Juden in die besetzten Gebiete deportiert werden, um sie dort mit den Juden aus den anderen unter deutscher Herrschaft stehenden Ländern zu vernichten. Bereits zur Vorbereitung der Deportationen wurde am 1. September 1941 den vielen bereits bestehenden Schikanen und Verfolgungsmaßnahmen eine weitere, besonders beschämende Maßnahme hinzugefügt: Juden mussten einen gut sichtbaren gelben Stern auf ihrer Kleidung tragen.

So waren sie auf der Straße gut erkennbar, und die Möglichkeit zu entkommen oder unterzutauchen war noch geringer geworden. Im Oktober 1941 lebten noch knapp über 10.000 Juden in Frankfurt. Vor der Nazi-Zeit waren es über 26.000 gewesen. Frankfurt hatte damit den größten jüdischen Bevölkerungsanteil einer deutschen Großstadt.

Juden waren aber nicht nur ihrer Anzahl wegen von besonderer Bedeutung für Frankfurt. Die kulturelle, politische und wirtschaftliche Entwicklung ist wie kaum in einer anderen deutschen Stadt durch jüdische Persönlichkeiten geprägt worden. Eines von vielen Beispielen ist das Konzept des „Neuen Frankfurt“ der zwanziger Jahre, als Oberbürgermeister Ludwig Landmann, Stadtkämmerer Bruno Asch und Stadtbaurat Ernst May die Grundlagen des modernen Frankfurt gelegt hatten. Alle drei stammten aus jüdischen Familien. Zu den wegweisenden Bauprojekten gehörten neben den berühmten May-Siedlungen und dem Flughafen auch die Großmarkthalle – einer der wegweisenden Bauten der Moderne, die nur wenige Jahre später als Schauplatz der Deportationen missbraucht werden sollte.

Ludwig Landmann starb 1945 in Holland an Unternährung in seinem Versteck, in das er sich geflüchtet hatte, um der Deportation zu entgehen. Bruno Asch beging 1940 in Amsterdam Selbstmord, seine Frau und seine Tochter wurden nach Sobibor verschleppt und dort ermordet. Nur zwei Beispiele für die vielen tausend Frankfurter Juden, die in den Tod getrieben oder ermordet wurden.

Die erste Deportation aus Frankfurt fand schließlich am 19. Oktober 1941 statt: Am frühen Sonntagmorgen standen ohne Ankündigung Gestapo, SS und SA-Männer vor den Wohnungen der jüdischen Familien vor allem im Westend und holten über 1.100 Menschen aus dem Schlaf. Sie mussten das Nötigste packen und wurden mit einem Schild um den Hals aus dem Westend durch die ganze Innenstadt zu Fuß zur Großmarkthalle getrieben. Auf dem Weg wurden sie noch, wie die wenigen Zeitzeugen berichten, von Passanten beschimpft und verspottet. Wie der Boykott vom 1. April 1933 oder die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 vollzog sich auch dieser vorletzte Akt der Verfolgung vor aller Augen.

Im Keller der Großmarkthalle – unter Beteiligung von Gestapo, Polizei, Finanz- und städtischen Beamten – mussten die zur Deportation Bestimmten ihren restlichen Besitz dem Reich überlassen, ihre Hausschlüssel abgeben, sich entwürdigenden Leibes- und Gepäckvisitationen unterziehen und schließlich noch 50 Mark Fahrgeld für die Fahrt in den Tod bezahlen. Für die erste große Deportation von Oktober 1941 und die bis zum September 1942 folgenden, bei denen jeweils zirka 1000 Personen verschleppt wurden, stellte die Reichsbahn Dritte-Klasse-Coupe-Waggons zur Verfügung.

Ein Zeitzeuge, Überlebender der ersten Deportation nach Lodz, berichtete darüber: „Es waren noch die alten Waggons mit den Einzelabteilen, dort wurden wir immer zu 4 bis 5 Personen hineingetrieben“. „Unser Gepäck mussten wir auch mit in die Abteile nehmen und auf dem Boden lagern, dort schliefen wir dann drauf während der mehrtägigen Fahrt“. An Gepäck durften die Betroffenen jeder nur einen kleinen Koffer, einen Rucksack und einen Brotbeutel mit Proviant mitnehmen.“ Bei dieser ersten Deportation wurde an den Zug ein Wagen mit Werkzeug angehängt, um die Lüge, die Deportierten würden zum Arbeitseinsatz in den Osten gebracht, zu unterstützen. Dieser Wagen wurde aber nach einiger Zeit wieder abgehängt.

Ein anderer Zeitzeuge, Überlebender der Deportation nach Minsk, berichtete über den Transport: „Wir wurden regelrecht in die Abteile hineingedrängt, sie waren ziemlich schmutzig. Tagelang mussten wir auf den Holzbänken zusammengequetscht ausharren“. Die erste Deportation aus Frankfurt hatte das Ghetto Lodz zum Ziel, nur zwei der 1180 verschleppten Juden sollten den 8. Mai 1945, den Tag der Befreiung, erleben.

Im August und September 1942 – also heute vor 66 Jahren – verließen Frankfurt dann die drei letzten großen Sonderzüge in Richtung Theresienstadt. Am 18. August, am 1. und am 15. September 1942 wurden jeweils über 1.000 Menschen wieder in der Frankfurter Großmarkthalle zusammengetrieben und – während der Marktbetrieb weiterging – von dort aus in das Ghetto nördlich von Prag abtransportiert. Für viele war Theresienstadt nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Auschwitz. Bei diesen Transporten kamen zu den Frankfurter Juden auch Juden aus Wiesbaden und hessischen Landkreisen hinzu. Damit waren innerhalb eines Jahres fast alle noch in Frankfurt lebenden Juden in die Konzentrationslage und Ghettos verschleppt worden.

In Frankfurt blieben nur noch die zurück, die in so genannten Mischehen mit nicht-jüdischen Partnern lebten, und ihre Kinder. Sie waren zwar vorerst von den Deportationen ausgenommen, lebten aber unter der ständigen Bedrohung, bei einem Verstoß gegen eine der zahlreichen für sie geltenden Verbote sofort verhaftet und in ein KZ verschleppt zu werden. So wurden hier vom Hauptbahnhof aus 1943 und 1944 immer wieder kleinere Gruppen – bewacht von Gestapobeamten – nach Auschwitz, Ravensbrück, Theresienstadt oder Buchenwald abtransportiert. Diese Art der Deportation erfolgte jeweils am Montagmorgen um 10:05 von Gleis 16 am Hauptbahnhof. Monica Kingreen hat kürzlich gezeigt, wie es die Frankfurter Gestapobeamten planmäßig darauf anlegten, auch diese als Juden verfolgten Menschen aus Frankfurt fortzuschaffen und damit dem Ziel näherzukommen, die Stadt, die wie kaum eine andere in Deutschland durch die Leistungen ihrer jüdischen Bürger geprägt worden war, „judenfrei“ zu machen.

Mit welch mörderischer Konsequenz diese Politik der Vernichtung bis zum Ende des Krieges betrieben wurden, bezeugt allein schon die Tatsache, dass der letzte größere Deportationszug mit 302 Personen noch am 14. Februar 1945 die Stadt verlies – wenige Wochen bevor die amerikanischen Truppen Frankfurt erreichten. Diesmal waren für die Zwangsreisenden keine Personenzüge, sondern Viehwaggons bereitgestellt worden.

Überlebende dieser Deportationen berichten: “Sie haben uns wie Vieh in die Waggons getrieben. Die waren gekalkt und stanken fürchterlich. Wer nicht so schnell konnte, wie etwa die älteren Herrschaften, der kriegte einen Knüppel auf den Rücken“, „Wir hatten Glück, der Verlobte meiner Schwester fand uns unter den vielen Fremden, brachte uns ’nen Eimer für die Notdurft und Stroh, auf dem wir während der Fahrt lagern konnten“, „als wir alle drin waren, haben die die Tür zugestoßen, Haken rein und ab ging die Fahrt. Das Geräusch, das der Haken machte, werde ich nie vergessen. Wir hatten bald nichts mehr zu Essen und zu Trinken. Die Fahrt dauerte mehrere Tage und manchmal hielt der Zug irgendwo“.

Edith Erbrich, die als Kind nach Theresienstadt verschleppt wurde, berichtete darüber: „Unsere Mutter begleitete uns bis an den Zug und als wir dann im Waggon schon drin waren und die Türe zuging, wurde sie noch mal geöffnet und die Mutter schrie, hebt die beiden Mädchen hoch, damit ich sie noch mal sehen kann. Dann hob uns tatsächlich jemand hoch und dann sausten die Türen wieder zu, rasteten die Haken mit lautem Getöse ein und wir waren eingesperrt. Die Fahrt war schrecklich unbequem, und es roch so übel, weil wir ja keine Toilette hatten.“

Insgesamt wurden zwischen dem 19. Oktober 1941 und dem 15. März 1945 über 10.000 Menschen mit Hilfe der Reichsbahn aus Frankfurt deportiert. Soweit dies ermittelbar ist, konnten nur sehr wenige von ihnen überleben. Es dauerte – und das bleibt ein weiteres beschämendes Kapitel der Stadtgeschichte – nach dem Ende des Krieges Jahrzehnte, bis die Stadt Frankfurt angemessene Formen der Erinnerung und des Gedenkens für die Opfer der Deportationen fand. Während für die Opfer des Bombenkrieges bereits 1946 ein so genanntes „Ehrenmal“ durch die Stadtverordnetenversammlung errichtet wurde, verweigerte die große Mehrheit der Stadtgesellschaft, um die jüdischen Ermordeten zu trauern.

Der letzte Akt der Vernichtungspolitik hatte sich zwar in den Lagern im Osten vollzogen, aber der Terror, die Diskriminierungen und Entrechtung, die Arisierung des Eigentums, die alltäglichen Schikanen und schließlich die Verschleppung kannte viele Täter und Begünstigte. Auf die Wohnungen der Deportierten erhoben „treue Volksgenossen“ schon vor den Verschleppungen Ansprüche. Sehr viele machten sich bei den Versteigerungen der Wohnungsinventare und des geraubten Besitzes auf die Schnäppchenjagd.

Ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg zur Erinnerung war 1961 die Gründung der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Juden in Frankfurt, die als erstes Unternehmen einen Dokumentenband zur Geschichte der Frankfurter Juden in der NS-Zeit vorlegte– bis heute die Grundlage für die Beschäftigung mit den Deportationen aus Frankfurt.

Dennoch: erst die einschneidenden Auseinandersetzungen um die Erinnerung in den 80-er Jahren – Stichworte sind die Fernsehserie „Holocaust“ oder in Frankfurt der Konflikt um den Börneplatz – veränderte auch die Politik der Stadt Frankfurt grundsätzlich. 1980 begann das Besuchsprogramm für die ehemaligen jüdischen Bürger der Stadt, 1988 wurde – als erstes dieser Art in Deutschland – das Jüdische Museum der Stadt eröffnet und 1996 die Gedenkstätte für die aus Frankfurt deportierten und ermordeten Juden durch Ignatz Bubis und Petra Roth der Öffentlichkeit übergeben. 11.134 Namensblöcke erinnern dort auf eine sehr bewegende Weise an das Schicksal der Ermordeten und durch Hunger, Krankheit und Terror Umgekommenen. Das Jüdische Museum hat seit 1996 versucht, zu jedem dieser Namen biografische Daten und Fotos zu finden, um den Ermordeten wieder ein Gesicht zu geben. Die dadurch in zehnjähriger Arbeit entstandene biografische Datenbank war die Grundlage der großen Ausstellung des Jüdischen Museums im Jahr 2005 „Und keiner hat für uns Kaddisch gesagt. Deportationen aus Frankfurt 1941 bis 1945“. Dadurch wurden auch an die 1.000 weitere Opfer der Deportationen bekannt, für die wir im kommenden Jahr die Gedenkstätte am Börneplatz entsprechend erweitern werden.

Schließlich wird in diesem Jahr zusammen mit der Jüdischen Gemeinde und der Europäischen Zentralbank ein Wettbewerb ausgeschrieben, um an der Großmarkthalle – künftig der neue Sitz der EZB – ein Denkmal zu Erinnerung an die Deportationen zu schaffen. Ein Teil des Kellers wird ebenfalls als Ort der Erinnerung erhalten bleiben.

An dieser Stelle müssen aber auch die zahlreichen bürgerschaftlichen Initiativen zur Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und der Verfolgung der Juden erinnert werden, die seit den 1980er Jahren Frankfurt geprägt haben. Erwähnen möchte ich nur stellvertretend die Initiative 9. November, die den Bunker in der Friedberger Anlage, dem Ort der ehemaligen Synagoge, betreut oder die Stolpersteininitiative, die mittlerweile mehrere hundert Stolpersteine verlegen konnte. Persönlich sehr wichtig finde ich auch die vielfältigen Initiativen Frankfurter Schulen, sich mit dem Schicksal ihrer vertriebenen und ermordeten jüdischen Schüler und Lehrer auseinanderzusetzen.

Denkmäler, Dokumentationen und vielfältigen Kontakte mit Überlebenden bezeugen diese für die Zukunft der Erinnerung elementare Arbeit. Ich begrüße es sehr, dass in Ergänzung der vielfältigen Aktivitäten des Fritz Bauer Instituts, das ja am Begleitprogramm mitgewirkt hat, der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank, des Jüdischen Museums und der zahlreichen Initiativen nun auch die Gelegenheit besteht, die Ausstellung über die Rolle der Reichsbahn bei den Deportationen hier am Frankfurter Hauptbahnhof – wie geschildert, einer der Frankfurter „Tatorte“ – zu sehen. Die Deutsche Bahn leitstet damit einen wichtigen Schritt der Selbstreflexion, der sich kein Unternehmen und keine öffentliche Institution entziehen sollte. Auch für die Deutsche Bahn gilt: Nur die Erinnerung macht uns frei für die Gestaltung der Zukunft.

Quelle: PIA/Stadt Frankfurt
 
26. August 2008, 17.44 Uhr
Redaktion
 
 
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