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Philippe Pirotte zum 200-Jährigen der Städelschule

Über das Recht, anders zu sein

"Es gibt bei uns keinen Deal. Keine Rendite in Form von international standardisierten Diplomen", sagte der Städelschul-Rektor Philippe Pirotte anlässlich des 200-jährigen Bestehens der Institution. Wir dokumentieren hier seine Rede.
Vor einigen Monaten hat der Künstler und Städelschule-Professor Tobias Rehberger hier im Kaisersaal die Goethe-Plakette empfangen und eine meiner Meinung nach denkwürdige Danksagung an das Andersdenken Frankfurts gewidmet: „Das Andere wird heute immer mehr zurückgedrängt“, so Rehberger.

Letzte Woche hat die Künstlerin und Städelschule-Absolventin Anne Imhof, weil sie – wie Rehberger 2009einen Goldenen Löwen auf der Biennale in Venedig in Empfang nahm, gesagt, dass ihre Arbeit vom Recht, anders zu sein, handelt.

Ich glaube, dass wir mit 200 Jahren Städelschule vor allem ein Engagement für das Querdenken feiern – für das „Anders-sein“. Dieses Recht, anders zu sein und zu denken, müsste in der Gesellschaft eigentlich als so selbstverständlich akzeptiert werden, dass es gar nicht mehr wahrgenommen wird. Leider ist dass noch lange nicht so.

Was macht Kunst dann eigentlich? Ich weiss es auch nicht. Aber womöglich ist es genau das, was die Kunst ausmacht: Sie widersteht dem Sich-Abfinden mit der Lage der Dinge. Sie nimmt Bezug auf eine lange Geschichte – als Zone freien Denkens und spekulativer Vorstellung. Sie hat manchmal eine spielerische, aber immer eine unkooperative Tendenz dazu, den Status der Dinge zu verändern. Wichtig ist das Arbeiten mit Paradoxen, Rätseln und Widersprüchen. Kunst und experimentelle Architektur schlagen eine Imagination anderer möglicher Lebensweisen vor, indem sie Perspektiven verschieben und das Bekannte wieder unbekannt machen. Deshalb möchte ich, auch wenn es naiv scheint, eintreten für die Idee vom befreienden Potenzial der Kunst für das individuelle und soziale Leben.

Dabei geht es zum Beispiel um Vorschläge, die nicht-fundamentalistisches Denken fördern, anerkennen und entwickeln. Kunst macht scheinbar Dinge, die es nicht wert sind, gemacht zu werden, die aber dennoch gemacht werden müssen. Der Künstler oder die Künstlerin macht Sinn, indem er oder sie Nutzloses macht. Um solche (nutzlose) Arbeit zu leisten – die aber geleistet werden muss – sollte eine Gesellschaft Räume für Freiheit und Spekulation vorsehen.

Das sind für mich offene Räume, wo kulturelle und künstlerische Arbeit auf autonome Weise durchgeführt werden kann. Etymologisch bedeutet das ein Handeln nach eigenen Gesetzen. Obwohl zur Autonomie der Kunst viel geschrieben worden ist, möchte ich heute hier eher bei der sogenannten Autonomie der Kunst in der Gesellschaft, beim Verhältnis der freien Kunst zu ihren Institutionen bleiben. Kulturelle und künstlerische Arbeit muss ihre Autonomie verteidigen – als mentaler Raum, in dem die Freiheit zum Experimentieren, die Freiheit zur Verhandlung ideologischer Positionen und die Freiheit zum Scheitern nicht nur akzeptiert wird, sondern Sinn stiftend ist.

Um offene Räume zu schaffen, in denen freie Kunst passiert (oder unterrichtet wird), braucht es eine administrative Autonomie. Diese Autonomie bedeutet Eigenständigkeit im Sinne von Selbstverwaltung. Deshalb brauchen wir Strukturen und Gesetze, die das garantieren. Als Rektor dieser hervorragenden Institution bin ich davon überzeugt, dass künstlerische Autonomie eine leere Phrase bleibt, solange die Bedingungen ihrer Existenz nicht rechtlich definiert sind.

Ein wesentlicher Teil von struktureller Freiheit könnte Satzungsfreiheit sein. Die 60er-Jahre haben die aktuelle Satzung der Städelschule samt ihrer demokratischen Gremien-Struktur produziert. Die Einzigartigkeit unserer Satzung liegt darin, dass die Entscheidungsgewalt vollständig dem kreativen Bereich der Hochschule obliegt.

Die Städelschule hat außerdem einen Freundeskreis und Stiftungen, die sie dabei unterstützen, ihre Autonomie zu wahren. Die Professoren und Professorinnen und Studierenden, können durch die Gremien der Hochschule und mit Unterstützung des Freundeskreises Freiheit gewährleisten. Das ist notwendig, weil es in der Natur administrativer Strukturen liegt, das zu formalisieren, was nonkonform ist.

Die Kunsthalle Portikus als Teil unserer institutionellen Struktur ist dafür ausschlaggebend, dass die Städelschule sowohl als Kunst-Hochschule fungiert als auch als Kunst-Institution in der regionalen und globalen Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Obwohl der Portikus ein wesentlicher Bestandteil der Städelschule ist, ist er gleichzeitig völlig autonom. Er kann frei agieren – ohne regulierende Gremien, langfristige Kulturpläne oder Agenden staatlicher Bildungspolitik. Der Portikus erfüllt eine wichtige Funktion dessen, was Johann Friedrich Städel 1817 im Sinn hatte: Er ist die radikal aktualisierte Version einer Studiengalerie. Er ist nicht die Schulgalerie, sondern dient den Studierenden eher als Lernort – unter Gewährleistung der Unabhängigkeit, die man dafür braucht.

Dass Verständnis von künstlerischer Ausbildung an der Städelschule lässt sich nicht ausschließlich in einem Lehrplan aus Kursen formulieren. Es entwickelt sich im Austausch der Professoren und Professorinnen miteinander und mit den Studierenden. Als Fakultät der Städelschule teilen wir die Auffassung von Walter Gropius, Max Beckmann oder John Baldessari, die sagten, Kunst kann nicht unterrichtet werden. Wir praktizieren entgegen gängiger Vorstellungen von Kunst als Disziplin; denn das Problem von Disziplin ist, dass sie verlangt, sich einer Autorität zu unterwerfen.

Unsere Professoren und Professorinnen formulieren verschiedenste, oftmals widersprüchliche Wahrheiten. Das hat unsere Prorektorin Judith Hopf einst das korrektive Potenzial der Fakultät genannt. Für sie heißt das, vereinheitlichende Sprachen und Einstellungen abzulehnen, um eine konformistische Gesellschaft zu vermeiden. Ihre Perspektive in der Fakultät steht für Kunst, die Ästhetik und Sinn nicht für sich beansprucht, sondern versucht, diese Kategorien aufzulösen und zu verändern.

Heute lenken Regierungen ihre staatliche Förderung für Kunst vermehrt entlang eines neoliberalen ökonomischen Credos. Das hat zu einer Rationalisierung der künstlerischen Bildung geführt; vor allem seit die Bologna-Reformen das europäische Hochschulwesen standardisierten.

Solche Veränderungen in der institutionalisierten Wissensproduktion passierten unter der Prämisse von Effizienz. Sie führten dazu, dass offene Räume benachteiligt werden, dass Räume die Entwicklungen fördern jetzt unter konstantem Druck stehen, sich anzupassen. Kunsthochschulen müssen sich verausgaben bei dem Versuch, weiterhin offene, großzügige Strukturen zu bieten und Sie ringen um Freiheit innerhalb von Vorschriften.

Unregulierte Räume sind aber notwendig, um ein soziales Bewusstsein darüber zu generieren, was wirklich wichtig ist. Sie bewegen sich im Bereich des Möglichen, ohne es als Plan vorzuschreiben.

Darum plädieren wir in der Städelschule für (künstlerische) Ausbildung als „Aufeinandertreffen des Ungewöhnlichen und Unerwarteten“. Das heißt, dass Bildung vor allem anstrebt „sich um die Aussicht auf ein Thema, eine Erkenntnis [oder] eine kreative Möglichkeit zu versammeln“, und dass sie anstrebt, „Begegnungen und Teilhabe an noch undefinierten Sphären“ zu ermöglichen.

Vor diesem Hintergrund ist die Städelschule ein Mikrokosmos der Vielfalt. Sie schafft Diversität und bewahrt dabei die Subjektivität jedes Einzelnen. Das ist ein System, das Unterschiede zulässt und sie nicht durch Konsens-Bildung neutralisiert. So fördert die Fakultät der Städelschule die Handlungsmacht ihrer Studierenden. Und deshalb glaube ich, es ist unmöglich, im Rahmen von Regeln (zum Beispiel von Bologna) sinnvolle Wege zu finden, um Spekulationen und Antagonismen anzustellen.

Unsere Pro-Rektorin Judith Hopf hat die Städelschule einmal als fortlaufendes Experiment bezeichnet. Als stets hinterfragtes und variables Projekt, das eine zentrale Frage beschäftigt: Warum macht ein Künstler oder eine Künstlerin was er oder sie macht?

Es gibt bei uns keinen Deal. Keine Rendite in Form von international standardisierten Diplomen. Im Zentrum der Kunsthochschule stehen Spekulation, Unterschied und Unstimmigkeit, „und die Teilnehmer (Studenten und Studentinnen und Professoren und Professorinnen) genießen die Unabhängigkeit, ihre eigenen Methoden, Räume und Sprachen zu formulieren.“

In diesem heterogenen Umfeld erwarten wir von jedem Studenten und jeder Studentin, dass er oder sie seine oder ihre eigene künstlerische Haltung findet. Durch die ständige Konfrontation mit anderen Meinungen (oft die der Kommilitonen und Kommilitoninnen) entwickeln die Studierenden eine eigene Stimme und lernen, sich angesichts vielstimmiger Kritik zu behaupten. Alle sind aufgefordert als künstlerische oder intellektuelle Kommentatoren, Gutachter oder Experten zu fungieren; sich zu Bemühen, einen dynamischen Diskurs anzuregen.

Es scheint also, als ob Studierende nach Ende des Kunststudiums an der Städelschule nichts Konkretes mitnehmen. Womöglich haben sie sich entschieden, ob sie Künstler oder Künstlerin werden wollen oder nicht. Das ist aber tatsächlich eine Menge! Ich meine es nicht ironisch, wenn ich behaupte, dass Künstler oder Künstlerin zu sein einer der schönsten, aber auch schwierigsten Berufe überhaupt ist. Kunst ist etwas, wozu einen niemand auffordert es zu machen. Und trotzdem, paradoxerweise muss der Künstler oder die Künstlerin sich das besondere Mandat erwerben, Kunst mit einer gewissen Sinnhaftigkeit zu machen – eine künstlerische Lizenz sozusagen.

Das bedeutet es, einen Unterschied zu machen: Mache anders, was jeder hätte tun können, aber was niemand getan hat. Finde heraus, was getan werden muss, was aber niemand bedacht hat zu tun. Um zu überlegen, ob man sich wirklich auf diese (spekulative) Reise begeben will oder nicht, braucht man Zeit. Und wenn solche Entscheidungen getroffen werden, sind sie von großer Bedeutung. Sie schlagen immer wieder eine neue Antwort auf die Frage vor: Was kann Kunst heutzutage sein oder bedeuten?

Die Städelschule ist eine der schönsten Kunsthochschulen der Welt. Sie charakterisiert sich durch ihr ständig selbst-veränderndes Programm. Sie ist einer der wenigen öffentlichen Orte, die noch relativ unbestimmt und frei sind. Insbesondere weil die Städelschule – im ökonomischen (Un)Sinn unserer Zeit – nicht für konkrete Resultate verantwortlich ist und das Gegenteil von Leistungsfähigkeit probiert.

Die Kunsthochschule, die ich mir für die nächsten 200 Jahre wünsche, sollte einen gefährdeten sozialen Bereich verteidigen: einen Ort, in dem Argumente und Aussagen im Widerspruch diskutiert werden. Vor allem, weil angesichts der aktuellen globalen Situation das Vertrauen in die Gültigkeit verschiedener Weltanschauungen von zentraler Bedeutung ist.

Eine Gesellschaft, die sich als zivilisiert sehen will, sollte solche Räume bieten, in denen sie Abstand zu den eigenen Werten gewinnen kann. Diese Gesellschaft muss Verantwortung übernehmen, ohne Renditen oder Kontrolle zu erwarten.

Sie begegnet heute einer Welt, die physisch enger und psychisch weiter geworden ist und die schon seit mehreren Dekaden nicht mehr allein auf westliche Paradigmen vertrauen kann, sondern Raum für Variabilität, Unbeständigkeit und Veränderung schaffen muss. Deshalb hoffe ich, dass Künstler der Städelschule auch in Zukunft hin und wieder die Vertrautheit eines Orts, einer Situation oder einer Denkweise stören können. (...)
 
22. Mai 2017, 11.27 Uhr
Philippe Pirotte
 
 
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