Man kennt das – ein Name, eine Situation, eine Begegnung und plötzlich tauchen längst vergessene Bilder und Geschichten wieder vor dem geistigen Auge auf. So auch vorm Konzert von Marissa Nadler in der Brotfabrik, ein Nachklapp zu den Female Voices letzte Woche. Tatsächlich gab es mal eine Bar direkt im Veranstaltungssaal in Hausen und hinterm Tresen stand – Ernst Nadler, nicht verschwistert und verschwägert mit der US-amerikanischen Sängerin, obwohl die auch glaubt, Verwandtschaft in Deutschland haben zu müssen. Den Ernst kannten die Szenegänger als Earnie und mit seiner Band The Steamers sang er damals mit rauchiger Stimme mit Vorliebe Eric Burdon-Songs.
Das tat Marissa, die mit einem langen roten Kleid und akustischer Gitarre auf die Bühne kam, nicht. Sie singt ihre eigenen Lieder. Wieder so ein junges, verhuschtes, nervöses Wesen, das später betonen sollte, sehr scheu und schüchtern zu sein. Und am liebsten hätte sie das Licht auf der Bühne – ganz wie einst Hope Sandoval im Mousonturm, von der man tatsächlich nur die Knie erkennen konnte – ganz herunter dimmen lassen. Der Gesang, so säuselig ihn manchen empfinden mögen, hat Kraft und Klarheit. Auch solo, noch ohne Band, keine Spur von übertriebener Fragilität. Das ist inspiriert von Folk fast klassischer Prägung, eher britisch, Jahrhunderte alt, wie er auch Led Zeppelin faszinierte. Und die nahmen ihr „The Battle Of Evermore“ mit der Folk-Ikone Sandy Denny von Fairport Convention auf. Ob Marissa den Star der frühen Siebziger wohl kennt? Klar, bekennt sie – Sandy sei ganz sicher eines ihrer Vorbilder. Schon solo sind viel Hall, Echo, Effekte im Spiel. So klingen sechs- und zwölfsaitige Akustikgitarre schon wie eine Band und – viel wichtiger fürs Selbstverständnis der Sängerin – wie aus einem anderen Raum, einer anderen Welt. Hier, auf diesem Planeten, heute und jetzt scheint sie sich nur bedingt wohl zu fühlen.
Dann die Band – E-Gitarre, Bass, Schlagzeug, sehr minimalistisch und doch gleichzeitig auch pompös. Man muss bei den Klangflächen, die sie gemeinsam erzeugen, aber auch bei der ätherischen Stimme, die darüber thront, an das britische 4AD-Label denken, auf dem in den Achtzigern Kultbands wie Cocteau Twins, Dead Can Dance, This Mortal Coil, Throwing Muses erschienen. Frauenstimmen wie Kristin Hersh, Elizabeth Fraser und Lisa Gerrard stehen dafür. Klar – auch die kennt Marissa Nadler. So wird Post Rock zu Post Folk, der ganz sicher auch ProgRock- und Gothic-Fans ansprechen mag, wenn er auch nicht so extrem daher kommt wie der von Gruft Folkie Rose Kemp. Das vorletzte Stück in der Zugabe klang tatsächlich, als sei Pink Floyd mal eine Countryband gewesen. Guter Witz. Mehr aber als an alles andere musste ich ständig an ein grandioses Album denken, das Emmylou Harris einst mit U2- und Peter Gabriel-Produzent Daniel Lanois aufgenommen hatte: „The Wrecking Ball“ mit se inem gelungenen Versuch einer transzendentalen Country-Musik im unglaublichem Soundscape-Gewand. Marissa reagiert so verblüfft wie geschmeichelt bei meiner Assoziation. Denn Emmylou ist ihr absolutes Vorbild unter den Sängerinnen. Nur sich selbst würde sie – durchaus eitel, aber nicht selbstbewusst – in einem Atemzug mit ihr nennen. Das kann ich ja für sie tun.
Die Musik, der Gesang, sind bei aller Schönheit nicht ganz unanstrengend. Irgendwie hatte ich die CD differenzierter in Erinnerung. „Wenn einem die Hölle so gefühlvoll nahe gebracht wird, wer will da noch in den Himmel?“, schrieb ich seinerzeit zur Veröffentlichung von „Little Hells“. Durch wie viel Höllen Marissa Nadler gegangen ist, sie wird es uns – außerhalb ihrer metaphernreichen Texte – nicht erzählen. Nur soviel vor der allerletzten Zugabe: „This ist he fastest, happiest song I´ve ever written...“ Und nach einer Kunstpause: „Na ja, der schnellste vielleicht...“. Er heißt „River Of Dirt“ und ist – man vermutet es – nicht wirklich lustig.