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Foto: Unsplash
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Internationaler Tag der Menschenrechte

Weibliche Beschneidung: Die Tradition eines Traumas

Der Internationale Tag der Menschenrechte wird jährlich am 10. Dezember begangen. Doch weltweit werden diese Rechte noch immer verletzt. So sind rund 200 Millionen Frauen und Mädchen von Genitalverstümmelung betroffen. Ein Blick auf ein vielschichtiges Problem.
Das Thema weibliche Genitalverstümmelung, abgekürzt FGM für Female Genital Mutilation, trifft in der hiesigen Bevölkerung nicht selten auf Unverständnis. Unverständnis für die Länder, in denen es geschieht, für die Menschen, die es machen und die Familien der betroffenen Frauen sowie für die Frauen selbst. Ein Thema, das in Deutschland vorzugsweise mit Distanz betrachtet wird; ein Problem, mit dem scheinbar allein afrikanische Länder zu kämpfen haben. Doch durch die zunehmende Migration leben auch in Deutschland immer mehr betroffene Frauen. Erst kürzlich veröffentlicht die Frauenrechts-Organisation Terre des Femmes ihre jährliche Dunkelziffer-Statistik zur weiblichen Genitalverstümmelung.

Darin wird die Zahl der betroffenen Frauen und Mädchen in Deutschland auf 74 899 geschätzt. 20 182 weitere, 3000 mehr als noch 2019, sind akut davon bedroht. Die häufig geäußerte Vermutung, dass hinter FGM ein religiöser Hintergrund stecke, ist dabei nicht zutreffend. „Man hat Beschneidungen bereits an ägyptischen Mumien entdeckt. Diese Tradition reicht bis zu 5000 Jahre zurück und ist keineswegs eine Erfindung der Weltreligionen“, erklärt Tanja Wunderlich von der Frankfurter Organisation Frauenrecht ist Menschenrecht – kurz FIM. Der genaue Ursprung aber sei nicht bekannt. Vielmehr bestünde in den betroffenen Ländern der Aberglaube, dass unbeschnittene Frauen nicht schwanger werden können, sie unhygienisch oder nicht gesund seien. Das Gegenteil ist der Fall: Unfruchtbarkeit, Infektionen, Inkontinenz, ganz zu schweigen von den seelischen Schäden, sind nur einige der schwerwiegenden Folgen einer Beschneidung.

Für die Tradition gebe es aber auch ökonomische Gründe, erklärt Wunderlich. „Der Grad der Beschneidung kann auch den Preis bei einer Verheiratung bestimmen. Gegebenenfalls wird diese den Vorstellungen des zukünftigen Mannes nach angepasst.“ Der Teil der Bevölkerung, der an dieser Tradition festhalte, hinterfrage die weibliche Beschneidung nicht. Sie sei vergleichbar mit einer Konfirmation oder Kommunion. Anders als häufig angenommen, handelt es sich dabei auch um kein rein afrikanisches Problem. „FGM existiert auf der ganzen Welt, auch in Lateinamerika und Südostasien, dort besonders in Indonesien. Auch in Europa gab es Fälle, in denen Frauen bis ins 20. Jahrhundert hinein beschnitten wurden. Man wollte die nicht gewollte Lust der Frau im Zaum halten oder sie von der sogenannten Hysterie heilen“, so die Frauerechtlerin.

Aktivistinnen und Aktivisten hatten sich in den 80er-Jahren für die Verwendung des Begriffs „Verstümmelung“ anstelle von Beschneidung eingesetzt, da es sich dabei nicht um eine Art Pendant der Abtrennung der Vorhaut beim Mann handele, sondern eher einer Kastration gleich komme. Im Umgang mit betroffenen Klientinnen gelte dies jedoch nicht. Dort verwenden die Beraterinnen den Begriff Beschneidung, erklärt Wunderlich. „Verstümmelung mag die Schwere der Verletzung besser darstellen, im Gespräch mit den Frauen verschließt er einem aber alle Türen. Die Betroffenen fühlen sich nicht verstümmelt.“ Im Jahr 2019 suchten 62 Frauen mit FGM, die vor allem aus Somalia, Nigeria und Eritrea stammten, bei FIM Unterstützung. Der Grund für ihr Kommen sei allerdings in den wenigsten Fällen die Beschneidung. „Es geht für die Frauen um ihre Wohnsituation oder ihre Aufenthaltsgenehmigung. Solche dringenden Themen sind häufig einfach wichtiger.“

Um mit den Frauen über ihre Beschneidung zu sprechen, brauche es eine wertschätzende Grundhaltung und Offenheit sowie eine ruhige und geschützte Gesprächssituation. Zum einen, weil es um ein sehr sensibles Thema gehe, zum anderen, weil es vielen Frauen an grundlegender sexueller Aufklärung fehle. „Die Betroffenen wissen häufig gar nicht, dass sie beschnitten sind. Es gehört zu ihrem normalen Körperbild“, so Wunderlich. Ein Tabuthema, an das auch erfahrene Beraterinnen und Berater immer wieder mit Vorsicht herantreten. „Wir passen uns an das Tempo der Frau an und tasten uns langsam vor. Dann zeigt sich auch häufig, dass die Frauen über ihren eigenen Körper gar nicht so gut Bescheid wissen. Sie teilen uns körperliche Beschwerden mit, die sie selbst gar nicht auf die Beschneidung zurückgeführt hätten.“ Was in den Frauen wirklich vorgehe und welche psychische Belastung damit einhergehe, könne man nur erahnen. „Ich bin mir nicht sicher, was traumatischer ist: die Beschneidung bewusst zu erleben oder erst später zu verstehen, woher ihr Trauma kommt – und sich dann erst klar zu werden, dass etwas nicht stimmt. Nicht nur mit ihrem Körper, auch grundsätzlich mit dem, was ihnen passiert ist.“

Der Film „Wüstenblume“ aus dem Jahr 2009 über die Geschichte des äthiopischen Models Waris Dirie brachte einer breiten Masse dieses Thema näher, von dem weltweit schätzungsweise 200 Millionen Frauen betroffen sind. Der Film erzählt eine berührende Geschichte, zeigt jedoch nur einen Ausschnitt, eine Ahnung von dem, was die Frauen erleben und was mit ihren Körpern passiert. Denn die Art, wie das Ritual durchgeführt wird, kann sich von Region zu Region unter - scheiden. „Es gibt zum Beispiel Gebiete im Senegal, in denen 96 Prozent der Mädchen beschnitten werden, aber auch Gebiete in denen nur zwei Prozent betroffen sind“, erklärt Wunderlich. FGM wird überwiegend vor dem 15. Lebensjahr vorgenommen, stattfinden kann dieses aber bereits als Säugling oder erst im Teenager-Alter. Medizinisch wird zwischen vier Arten der weiblichen Genitalverstümmelung unterschieden.

Bei Typ I handelt es sich um die sogenannte Klitoridektomie, die die partielle oder vollständige Entfernung der Klitoris oder der Klitorisvorhaut beschreibt. „Evolutionsbiologisch entspricht dies einer Amputation der Eichel beim Mann“, führt FIM in einem Dossier aus. Typ II, die Exzision, ist die teilweise oder vollständige Entfernung der Klitoris sowie der kleinen Schamlippen; dabei ist auch die zusätzliche Entfernung der großen Schamlippen nicht unüblich. Die Infibulation, Typ III und auch „pharaonische“ Beschneidung genannt, sieht sowohl die Entfernung der großen und kleinen Schamlippen als auch die der Klitoris vor. Die Wundränder wer - den anschließend zusammengenäht. Typ IV der Genitalverstümmelung unterliegt keiner konkreten Definition, sondern beschreibt alle weiteren schädlichen Praktiken, welche die Vulva oder die Klitoris schädigen und nicht bereits durch die vorangegangenen drei Typen beschrieben werden.

Die Beschneidung wird meistens von traditionellen Beschneiderinnen durchgeführt, die für ihre Tätigkeit in der Gesellschaft ein hohes Ansehen genießen. In der Regel erben sie das Amt von ihren Müttern. Diese Tätigkeit verschafft den Beschneiderinnen die Grundlage für eine eigene Existenz, „eine Unabhängigkeit, die Frauen in vielen der FGM praktizierenden Kulturen sonst allzu oft verwehrt bleibt“, schreibt FIM. Diesem Problem haben sich bereits einige Hilfsorganisationen angenommen. So klärt Terre des Femmes gemeinsam mit ihrer Partnerorganisation Amazonian Initiative Movement seit mehreren Jahren Beschneiderinnen in Sierra Leone auf und unterstützt sie dabei ,eine alternative Existenz aufzubauen. Doch nicht nur traditionelle Beschneiderinnen führen FGM durch. Aktuell gehen die Vereinten Nationen davon aus, dass rund 18 Prozent der weltweiten Beschneidungen in Krankenhäusern stattfinden, so beispielsweise in Ägypten, Indonesien und Kenia. Dass sterile Bedingungen herrschten und medizinisches Fachpersonal die Mädchen in eine Narkose versetzt, mache daraus jedoch keine weniger schwere Menschenrechtsverletzung, so FIM.

Der Leiter der Geburtshilfe am Universitätsklinikum Frankfurt, Dr. Frank Louwen weist darauf hin, dass sich der Trend der sterilen Verstümmelung, beinahe bis in britische Krankenhäuser vorgekämpft hätte. „In England hat es vonseiten plastischer Chirurgen den Vorschlag gegeben, die Beschneidung vor Ort legal durchzuführen, um eine sterile Umgebung bieten zu können“, so Louwen. Terre des Femmes berichtete in einer Studie über FGM aus dem Jahre 2005 sogar von vereinzelten Fällen in Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien und Spanien, bei denen sich Ärzte zu einem FGM-Eingriff bereit erklärten. Louwen, der auch Vorsitzender von Pro Familia Hessen und Vorstandsmitglied der Fédération Internationale de Gynécologie et d’Obstétrique (Internationale Vereinigung für Gynäkologie und Geburtskunde, kurz FIGO) ist, beschäftigt sich seit rund zehn Jahren mit FGM: „Ich dachte, so kann das nicht weitergehen. Es kommt viel zu häufig vor.“ In der Geburtshilfe begegne er jährlich fünf bis zehn Frauen, die beschnitten seien, mit einer Öffnung der Schamlippen kann Louwen auch ihnen eine natürliche Entbindung ermöglichen.

„Es ist wichtig, ein Bewusstsein für diese Menschenrechtsverletzung herzustellen. Es schützt niemanden, wenn andere wegschauen“, betont Louwen. Deshalb müsse man gesetzliche Vorgaben, wie das Kindeswohlgesetz, nutzen, um Gefährdungen zu melden, über internationale Gesellschaften in den jeweiligen Ländern Aufklärung betreiben und Fachpersonal schulen. Durch die Migrationsbewegung rücke das Thema mehr in den Fokus. Ein Grund auch für die Landesregierung, Maßnahmen zu ergreifen. 2019 startete die Hessische Landesregierung gemeinsam mit dem Landesverband von Pro Familia und der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe des Universitätsklinikum Frankfurt ein Projekt zur Verbesserung des Schutzes und der Versorgung von Frauen und Mädchen in Hessen, die von FGM betroffen sind. Dabei wurde besonderes Augenmerk auf die Weiterbildung und Vernetzung von Fachkräften aus dem sozialen, pädagogischen und medizinischen Bereich gelegt.

„Es gilt, Prävention, Intervention und Versorgung für die Betroffenen zu verbessern“, heißt es vom Landesverband von Pro Familia. Auch der Gynäkologe Christoph Zerm aus Witten im Ruhrgebiet, der in Fachkreisen aufgrund seiner langjährigen Erfahrung als Koryphäe gilt, unterstützt die Fortbildung des medizinischen Personals. Wenn die FIM-Beraterinnen mitbekommen, dass Familien mit jungen Töchtern einen Heimaturlaub planten, gehen bei ihnen die Alarmglocken an, sagt Wunderlich. „Es hilft mit den Familien zu reden und sie aufzuklären. Damit können wir schon viel erreichen. Unter Umständen ist ihnen nicht klar, dass die Genitalbeschneidung verboten ist und sie in Deutschland auch mit einem Strafverfahren rechnen müssen. Um etwas in der Hand zu haben, wirken wir darauf hin, dass vor ihrer Abreise von einem Kinderarzt ein Gutachten über die unversehrten Genitalien des Mädchens ausgestellt wird – dies hilft nicht zuletzt der betroffenen Familie als Beleg und Argumentationshilfe gegen möglichen sozialen Druck im Herkunftsland.“ Louwen ergänzt, dass in dieser Hinsicht auch für Ärztinnen und Ärzte keine Verschwiegenheitspflicht gelte. Diese dürfen in einem Verdachtsfall auch das Jugendamt oder Beratungsstellen kontaktieren.

Zudem gilt weibliche Genitalverstümmelung als frauenspezifischer Asylgrund. In einem Asylverfahren spielt sie eine tragende Rolle, da sie als politische Verfolgung gewertet wird. Das gelte besonders, wenn das Mädchen im Heimatland von Beschneidung bedroht ist. Bei bereits beschnittenen Frauen und Mädchen ist das schwieriger, da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) argumentiert, die Menschenrechtsverletzung habe bereits stattgefunden und es drohe keine Verfolgung mehr. Laut FIM litten die Betroffenen jedoch häufig an posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen psychischen und körperlichen, teils schwerwiegenden Beschwerden. Auch drohe den Frauen, die zurückkehren, anlässlich einer Heirat oder einer Geburt oftmals eine erneute Körperverletzung. Das Problem dabei: „Die Anzahl der Arztpraxen, die ein solches detailliertes und für ein Asylverfahren nutzbares Gutachten ausstellen können, befindet sich nach der Erfahrung von FIM in Frankfurt derzeit eher im kleinen einstelligen Bereich. Das kann für die Frauen in ihrem Asylverfahren durchaus zum Problem werden“, sagt Wunderlich. Im Bereich der Geburtshilfe und in Krankenhäusern tätige Gynäkologin oder Gynäkologen seien laut Louwen jedoch durchaus in der Lage, eine Genitalverstümmelung festzustellen.

Ähnlich kompliziert stellt sich die Situation bei dem Wunsch nach einem rekonstruierenden Eingriff dar. Nur wenige Ärztinnen und Ärzte in Deutschland seien auf solche Operationen spezialisiert, erklärt Wunderlich. In Berlin-Zehlendorf befindet sich seit 2013 beispielsweise eines von weltweit vier Desert-Flower-Centern, die sich auf Behandlung, Therapie und rekonstruierende Operation von genitalverstümmelten Frauen spezialisiert hat. Eine solche Operation ermöglicht den Frauen auch wieder eine höhere Empfindungsfähigkeit. In Aachen hat der plastische Chirurg Dr. Dan mon O’Dey zudem eine einzigartige Operationsmethode entwickelt, bei dem er das Genital äußerlich wieder aufbaut und weitestgehend in seine natürliche Form zurückbringt. „Es handelt sich bei der Rekonstruktion nicht um eine Schönheitsoperation, sondern um die Wiederherstellung der körperlichen Integrität“, so O’Dey. Das Hilfsangebot für betroffene Frauen würde man bei FIM gerne weiter ausbauen, das sei jedoch sehr personalintensiv. „Die Frauen brauchen ein Gefühl von Sicherheit. Im Moment sind wir noch auf der Suche nach einer Finanzierung“, sagt Wunderlich. Sie hoffe, noch dieses oder nächstes Jahr fündig zu werden.

Der Artikel erschien zuerst in der Ausgabe 07/20 des JOURNAL FRANKFURT.
 
10. Dezember 2020, 10.42 Uhr
Johanna Wendel
 
Johanna Wendel
Jahrgang 1993, Technikjournalismus-Studium an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, seit Januar 2019 beim Journal Frankfurt. – Mehr von Johanna Wendel >>
 
 
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