Es war nicht der kürzeste Weg, den man zurücklegen musste, um in das Bürgerhaus Sindlingen zu gelangen. Aber manchmal muss man eben gewisse Opfer erbringen, um in den Genuss eines unvergesslichen Konzerts zu kommen. Was die legendäre russische Rockband Aquarium und ihr noch legendärerer Frontmann Boris Grebenschikow, „B.G.“ genannt, fast zweieinhalb Stunden lang hören ließen, rechtfertigte dann umso mehr jeden gefahrenen Kilometer.
Es war ein Konzert, in dem Punk-Rock, Funk-Jazz, Ska, irische Volksklänge, englische Matrosenlieder, indische Sitarlaute zu hören waren und eine geradezu babylonische Atmosphäre schufen. Im Hintergrund der Bühne war eine hinduistische Göttin zu sehen, auf der Bühne erholten sich die sechs Musiker, „B.G.“ allen voran, zwischen den Liedern mit Yoga-ähnlichen Übungen. Die Ikone des sowjetisch-russischen Rocks zeigte sich mit Glatze, langem spitzzulaufendem Bart und rotverglaster Sonnenbrille, eine imponierende Gestalt, fast wie Marlon Brandos Colonel Kurtz in „Apocalypse Now“. Und unwahrscheinlich charismatisch, etwa wenn er sich mit gefalteten Händen wie zum Gebet bei dem Publikum für den tosenden Applaus bedankte.
Noch genauso kräftig wie vor über 30 Jahren, als Aquarium gegründet wurde, sang der gelernte Mathematiker die größten Hits der Bandgeschichte. Einige sind inzwischen wahres Volksgut geworden und entsprechend eifrig sangen die Zuschauer mit. Besinnliche Vokalstücke und harte Bässe wechselten sich auf harmonische Weise ab. Letztes Jahr ist das fünfundzwanzigste Album Aquariums erschienen. Außer „B.G.“ ist kein einziger der Gründungsmitglieder mehr in der Gruppe. Die fünf Neuen, darunter ein Geiger und ein Multiinstrumentalist, der sowohl Flöte, Bass als auch Saxophon genial beherrscht, spielten aber den Aquarium-Sound, als seien sie schon seit den Breschnjew-Zeiten dabei.
Fast zwei Stunden ohne Pause begeisterte Aquarium die Fans, dann ging es für fünf Minuten hinter die Bühne, erst als die Zuschauer aus allen Kehlen nach „B.G.“ riefen, kam dieser eine Zigarette rauchend wieder auf die Bühne. Und spielte noch vier Lieder. Und wünschte den Zuschauern noch zum Abschied: „Liebt euch mehr, seid gut zu einander. Behüte euch Gott!“ Nicht umsonst nennen ihn die treuesten Fans auch Prophet.
„B.G.“ schrieb nach dem Konzert sogar Autogramme, dafür wurden von den Fans Eintrittskarten, CD-Cover und Plattenhüllen gesammelt und hinter die Bühne gebracht. Und während die letzten Anhänger warteten, begann die russische Security höflich, aber eindringlich darauf hinzuweisen, dass der Saal verlassen werden musste, da er nur bis 23 Uhr gemietet sei. Als dann endlich die Autogramme gebracht wurden, auf denen, was sonst, in großen schwarzen Lettern „B.G.“ stand, war man froh, den Herren in schwarz entkommen zu dürfen. Und froh, den weiten Weg nach Sindlingen gemacht zu haben. Aquarium und Boris Grebenschikow sind wahre Musik. Gary Vanisian