Kein Gefühl mehr in den Zehen. Nach zwei Stunden Walddorfbesichtigung spürten wir sie kaum noch. Es hatte immerhin sechs Grad minus heute mittag. Doch als ich einen der Waldbesetzer mit nacktem Oberkörper duschen sehe, wird’s mir fast schon wieder warm. „Neenee, das ist kaltes Wasser“, hieß es. Natürlich lief der Campbewohner barfuss durch den Schnee. Wer braucht schon Schuhe? Die etwa zwanzigköpfige Kommune hat sich aber nicht nur Kälteresistenz antrainiert. Not macht erfinderisch und so entstanden mit Einbruch des Winters eigens konstruierte Heizöfen und Isolationsmethoden, um das Temperaturtief zu überstehen. Dennoch sind Eis und Kälte das kleinere Übel, auf das sich die Flughafenausbaugegner einstellen. Eine Zwangsräumung durch die Polizei steht kurz bevor.
Ein kaltes Bad bei minus sechs Grad.
Doch soweit ist es noch nicht und es wird fleißig daran gearbeitet, um den Aufenthalt im Kelsterbacher Wald so lange und angenehm wie möglich zu gestalten. An die acht Baumhäuser stehen mittlerweile in windiger Höhe. „Dort oben ist es aber eigentlich wärmer als in den Hütten unten. Wir haben gut isoliert und heizen mit Gasöfen“, erklärte uns Thorsten auch Daniel Düsentrieb genannt.
Thorsten führt seinen selbstgebauten Ofen vor. Sein Zelt hat er nach Ted Kaczinsky benannt.
Der Tüftler aus Wiesbaden zeigte uns die kleine Siedlung und die neuesten Kreationen der Erfinderwerkstatt: Selbstgebaute Heiztonnen mit Abzug, Homemade-Wärmflaschen oder eine sich in der Entstehung befindende Warmwasserdusche aus Kühlschrankbauteilen, aber auch ein innovatives Soundverstärkersystem, eine Couch mit eingebauten Musik-Boxen oder flippige Stelzenschuhe. Erst beim Rundgang wurde mir bewusst, auf was man bei so einer Kälte eigentlich alles achten muss. Abgesehen vom eigenen Erfrieren, gefriert ja jegliches Getränk und alle Lebensmittel. Schon mal mit eishartem Öl gekocht? Geschweige denn, dies überhaupt aus der Flasche zu bekommen. „Wenn wir kochen wollen, müssen die Nahrungsmittel am jeweiligen Vortag zum Auftauen in die Haupthütte,“, sagte Leonhard, der sich alle paar Tage als Campkoch betätigt.
Leonhard bei der Fütterung der Wildschweine.
Er führt uns auch zum nahegelegenen Gehege der Wildschweine, die die Stadt Kelsterbach einst eingehegt hat. Auf dem Weg kommen wir am Waldklo vorbei. Wer es schafft nachts um vier Uhr bei minus fünfzehn Grad auf einem Freiluftpot zu sitzen, der hat die Kälte wirklich besiegt.
Aber die Kälte ist ja auch nicht der eigentliche Gegner der Besetzer und des Waldes, für den sich die Aktivisten einsetzen. Gestern wurde der Eilantrag des BUND zurückgewiesen, Anfang Februar werden die Eilanträge der Kommunen bearbeitet. Spätestens dann rechnen die Waldbewohner mit einer Räumung durch die Polizei. Regelmäßig würden Trupps von Uniformierten im Camp auftauchen, um sich über den Stand der Lage zu informieren, teilte uns Thorsten mit. Diese würden nach den berühmtberüchtigten Geheimgängen suchen oder sonst wie mit Teleskopstäben herumstochern. „Die gibt es auch“, sagte Thorsten, „Aber die wird so schnell keiner finden.“ Angeblich selbst nicht mit Thermokameras aus der Luft. „Unter uns befinden sich einige mit militärischer Ausbildung, Profikletterer und Castorerfahrene“, sagte uns Thorsten.
Thorsten zeigt seine ABC-Schutzausrüstung.
Schutzequipment gegen chemische Angriffe – hört sich hart an, aber auch Pfefferspray zählt hier schon dazu – ist für die ganze Gruppe vorhanden. Alle Besetzer, die wir trafen, betonten aber, dass es sich um einen gewaltfreien Protest handele. Gewaltbefürworter seien sogar schon aus dem Camp rausgeworfen worden. „Uns ist bewusst, dass wir hier kleingemacht werden“, so Thorsten nüchtern. Die Besetzung solle viel mehr als Symbol dienen, um die Öffentlichkeit aufmerksam zu machen. Uns wurde angedeutet, dass im Falle eines Anrückens der Beamten ein jeder seine „Rückzugsmöglichkeit“ habe, aus der man nicht so „einfach“ zu befreien sei.
Auf Stelzen stapfen diese Besetzer durch den Wald, trommeln und üben für die kommenden Demos.
Es wird auf jeden Fall eine Blockade geben, die sich gewaschen hat, denn in zehn Meter Höhe ist bereits eine Badewanne installiert. Also nur die Badewanne. Klar ohne Anschluss. Langt ja auch, um als eine Bastion gegen die Auflösung des Dorfes zu dienen.
Fotos: Nils Bremer
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