"Guck mal Mutti, so viele Tandems", rufen Kinder immer wieder, wenn sie mehrere Frauen und Männer auf Doppelrädern vorbeifahren sehen. Es sind blinde, sehbehinderte und sehende Menschen, die in der warmen Jahreszeit gemeinsam auf Drahteseln Ziele in und um Frankfurt ansteuern. Dass auch Menschen ohne Sehkraft Radsportfreuden genießen können, ist einer in der Mainmetropole gestarteten Initiative zu verdanken. Aus einem losen Treffen von Hobby-Radlerinnen und -Radlern, die sich seit 1978 immer wieder zu Ausflügen trafen, ist 1980 in Frankfurt unter dem Namen "Tandemclub Weiße Speiche e.V." der erste Tandemclub für sehende Pilotinnen und Piloten sowie blinde oder sehbehinderte Beifahrerinnen und Beifahrer in der Bundesrepublik entstanden.
Die Aktivitäten des Tandemclubs in der Main-Metropole fanden damals ein großes Echo in den Medien. "Wer davon hörte oder las und neugierig zu uns kam, wollte gemeinsam Spaß beim Radsport haben", berichtet die blinde Vizechefin der gemeinnützigen Organisation, Brigitte Buttkewitz. Sie und ihr sehender Mann waren von Anfang an dabei. Der Frankfurter Tandemclub fand schnell Nachahmer - inzwischen sind vielerorts ähnliche Einrichtungen entstanden. Die Mitglieder des Frankfurter Vereins sind bunt gemischt, Hausfrauen, Studenten, Handwerker, Manager, Facharbeiter und Angestellte sind darunter. Jede Tandem-Fahrt will gut vorbereitet sein: Die Strecke muss erkundet und Fahrdienste für Blinde und Sehbehinderte, die nicht alleine zum Startplatz kommen können, müssen organisiert werden. Gewartet werden die Räder von ehrenamtlich tätigen Mitgliedern und Freunden des Clubs.
Einmal im Monat gehen die Tandemfahrer am Sonntag auf Tour, und einmal im Jahr unternehmen einige gut trainierte Frauen und Männer auch eine mehrtägige Fahrt, die einmal sogar bis nach Dänemark führte und im Anschluss von den dänischen Radsportfreunden erwidert wurde. Zu den monatlichen Ausflügen des Clubs kommen die Pedaleurinnen und Pedaleure aus ganz Hessen und aus Rheinland-Pfalz nach Frankfurt. "Bitte bücken, wir kommen unter eine Brücke! - Rechts ist ein Erdbeerfeld. - Riechst Du die Blumen?" mit solchen Sätzen vermitteln die sehenden Pilotinnen und Piloten den Blinden oder Sehbehinderten auf dem Rücksitz Eindrücke. Ein Mitglied des Vereins kann weder sehen noch hören. Der gehörlos aufgewachsene und mit 25 Jahren erblindete Helge arbeitet als Masseur und Lymphdrainage-Spezialist in einem Frankfurter Krankenhaus und erholt sich gerne auf dem Tandem. Die Mitfahrer auf den Touren, die das aus einer Kombination von Punkten und Strichen bestehende Tast-Alphabet, das Kommunikationsmittel taubblinder Menschen, beherrschen, vermitteln ihm die Eindrücke und das Geschehen. Andere schreiben ihm Druckbuchstaben in die Hand.
Finanzielle Unterstützung hat der Verein durch die Lufthansa-Sportgruppe und auch von der "Schlappekicker-Aktion" der Frankfurter Rundschau bekommen. Die Stadt Frankfurt hat im Jahr 2006 den Tandemclub Weiße Speiche gemeinsam mit einem anderen Sportverein mit dem in diesem Jahr zum ersten Mal verliehenen Sportpreis "Sport kennt keine Grenzen" ausgezeichnet. Der mit 10.000 Euro dotierte und alle zwei Jahre verliehene Preis will die integrativen Leistungen der Sportvereine würdigen. "Die Aktivitäten des Tandemclubs haben eine hohe sozialintegrative Kraft. Der Sport erreicht Menschen quer durch alle Ebenen der Gesellschaft und öffnet Möglichkeiten für Jung und Alt, Menschen mit und ohne Behinderung, Männer und Frauen, unabhängig von ihrer religiösen und nationalen Zugehörigkeit." Mit diesen Worten würdigte der damalige Frankfurter Bürgermeister Achim Vandreike bei der Verleihung im Kaisersaal des Rathauses Römer die Preisträger.
Grenzen überschreiten die Mitglieder des Clubs in großer Selbstverständlichkeit, sogar die zwischen Frankfurt und Offenbach. Einige der unentwegten Frauen und Männer radeln auch im später entstandenen Offenbacher Tandemclub mit. Vertreter beider Clubs gehen beim diesjährigen Radrennen rund um den Henninger Turm am 1. Mai gemeinsam an den Start. Bislang haben sich neun Teams aus Frankfurt und Offenbach angemeldet.
Text und Foto: PIA/ Keyvan Dahesch
Siehe auch: Zwischen Tour de France und Frankfurt - Drei Brüder radeln auf ihrem selbst gebauten Tridem "Rund um den Henninger Turm", JOURNAL 09/07, Seite 8.