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Foto: Harald Schröder
Foto: Harald Schröder

Demokratie gestalten

„Die größte Gefahr der Demokratie ist der Rechtsextremismus“

Demokratie bedeutet vor allem, wie wir miteinander umgehen. Michel Friedman erklärt, wo für ihn die Gefahren liegen und wie wichtig es ist, die Gleichgültigen zu aktivieren.
Jasmin Schülke: Wir leben heute in Zeiten der großen Krisen, auch ausgelöst durch nationalistische, illiberale Tendenzen. Was bedeutet das für die Zukunft der Demokratie?
Michel Friedman: Rassismus und Judenhass sind Menschenhass und damit ein Verstoß gegen das Grundgesetz. In Artikel 1 ist das Fundament, auf das sich alle Grundrechte beziehen, eindeutig formuliert: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wer Menschen diskriminiert, tritt das Grundgesetz mit Füßen. Nur über die Demokratie kann es eine Gewährleistung der Menschenrechte geben. In Diktaturen gibt es keine Menschenrechte, sondern nur in Demokratien.

Seit 1945 gibt es in Deutschland keinen einzigen Tag ohne Nazis und Neonazis. Wir müssen uns eingestehen, dass es in Deutschland nach wie vor einen strukturellen Menschenhass gibt. Wissenschaftliche Erkenntnisse beziffern ihn auf zwischen 10 und 15 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die Enthemmung und die Schamlosigkeit haben sich seit den 2000er-Jahren deutlich entwickelt und wir haben in allen Parlamenten eine antidemokratische Partei sitzen. Das ist ein weiterer Warnschuss gegen die Demokratie.

Haben wir die gesellschaftlichen strukturellen Risse in der Gesellschaft ernst genug genommen? Und dass diese Phänomene zwar auch die Minderheiten bedrohen, aber immer auch uns alle? Die größte Gefahr der Demokratie ist der Rechtsextremismus.

„Die größte Gefahr der Demokratie ist der Rechtsextremismus“

Paula Macedo Weiß: Wie können wir angesichts dieser illiberalen Gefahren Inklusion, Diversität und Minderheitenschutz in unserer Gesellschaft gewährleisten?
Das ist sehr spannend, wie man in Frankfurt sieht, ist es ja gar keine Frage nur von Minderheitenschutz. Es leben über 50 Prozent Menschen mit Migrantenhintergrund und ganz unterschiedlichen diversen Biografien hier. Das ist mehr als gut so, denn das ist der Sauerstoff unserer Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die homogen ist, erstickt an ihrem eigenen Echo. Wie langweilig!

J.S.: Die große Mehrheit ist aber demokratisch, oder?
Wir sollten unseren Blick tatsächlich auf die 80 Prozent der Gesellschaft richten, denen wir unterstellen, dass sie demokratisch sind. Hier empfehle ich einen differenzierten Blick: Sind diese 80 Prozent aktive Demokratie-Anhänger oder sind unter ihnen auch sehr viele Gleichgültige? Gleichgültigkeit ist nie gut, heute erst recht nicht.

Israel als Vorbild

J.S.: Wen meinen Sie mit Gleichgültige?
Bürgerinnen und Bürger, die passiv sind, solange ihnen das System unterstützend zur Seite steht. Das heißt nicht, dass sie antidemokratisch sind. Aber sind sie demokratisch? Eine Demokratie lebt ja davon, dass Bürgerinnen und Bürger sich weiterentwickeln wollen und die Demokratie ausfüllen. Die Menschen sind der Sauerstoff des Demokratischen.

Meine Sorge ist, dass ein Teil dieser 80 Prozent so leise ist, so müde ist, so verwöhnt ist. Sie sind von ihrem Alltag und Wohlstand des vermeintlichen Schlaraffenlands, nicht nur materiell, fett geworden. In dieser Differenzierung sehe ich die Krise, an der wir arbeiten müssen. Den Menschen fehlt es in großen Teilen seit Jahrzehnten an Mut und Motivation. Wir sehen, wie schnell Demokratien zerbröseln: in Ungarn, in Polen, in Schweden, auch in Israel. Allerdings möchte ich Israel als Vorbild nennen. Wie laut, wie engagiert, wie nachhaltig und konsequent die demokratischen Bürgerinnen und Bürger Widerstand gegen den Abbau der demokratischen Rechte leisten, ist großartig.

„Demokratie braucht Empathie“

J.S.: Was können wir in Deutschland tun, um diese 80 Prozent zu aktivieren?
Ganz einfach: etwas TUN. Jeder, wo er will. Demokratie kann ich nicht delegieren, ich muss sie leben. Demokratie ist ja nicht nur Bundestag, Landtag und Stadtverordnetenversammlung. Demokratie bedeutet, wie wir miteinander umgehen: in unserem sozialen Beziehungsgeflecht, im Arbeitsbereich, in allen Bereichen, in denen wir wirken, gilt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Demokratie ist Verantwortung, Engagement für die Anderen, Solidarität für die Anderen.

Demokratie braucht deswegen Empathie. Das Ziel muss immer bleiben, menschlich miteinander umzugehen. Die Menschenwürde ist ein nicht zu verhandelndes Menschenrecht. Und Menschenrechte sind a-priori-Rechte. Unantastbar, unwiderrufbar. Es ist wichtig zu reden und zu verhandeln, aber ohne Handeln werden wir nicht vorankommen. Handeln bedeutet auch, an der Seite derer zu stehen, deren Menschenrechte in Frage gestellt werden. Handeln bedeutet aber auch, dass wir uns um unsere Umwelt und Natur kümmern. Das Ob ist in der Gesellschaft Konsens, das Wie noch nicht.

„Statische Gemeinschaften sind kontraproduktiv“

P.M.W.: Was hält uns als Gesellschaft zusammen?
Ich glaube nicht, dass man innerhalb der Bundesrepublik Deutschland heute von EINER Gesellschaft sprechen kann. Moderne Gesellschaften schaffen erst einmal Freiraum. Jedes Ich soll sich entfalten und in viele unterschiedliche Wirs mit emanzipierten und selbstbewussten Ichs entwickeln. Das ist zum Beispiel diese Stadt Frankfurt, in der wir alle leben. Dynamisch, unterschiedlich, aufregend und anregend, sich immer als Angebot empfindend, das nicht stehen und stecken bleibt, sondern immer wieder Neuerfindungen versucht.

Unsere Gesellschaften sind mobiler. Menschen kommen in unsere Stadt, um zu arbeiten, einige bleiben, andere gehen. Statische Gemeinschaften oder die Sehnsucht danach sind kontraproduktiv. Sie wären ein Rückschritt. Die Realität ist einfach und auch gleichzeitig banal. Die Zeit bewegt sich immer. Nach vorne. Es empfiehlt sich, diesen dynamischen Prozess als Leitlinie anzunehmen und mit der Erfahrung der Vergangenheit zu einer Symbiose zu bringen.

Diese Vorstellung von einer Gemeinschaft auf ewig halte ich für sehr fragwürdig. Ich glaube, die eigentliche Aufgabe von Demokratie ist es, die Wände zu öffnen und Möglichkeiten zu schaffen, dass Menschen sich in ihrer Vielfalt entwickeln können und damit glücklich sind.

9/11 war der Wendepunkt im Westen

J.S.: Wo liegen die Schwächen einer modernen demokratischen Gesellschaft?
Das 20. Jahrhundert ist vorbei, viele Menschen haben es noch nicht verstanden, nicht nur, aber auch aus der politischen Elite. 9/11 ist die fundamentale Erschütterung des Selbstbewusstseins des Westens und damit das Ende der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch die explosiven Möglichkeiten der Internet- und digitalen Möglichkeiten, ob in der Arbeit, der Technik, ob im tertiären Bereich, ob in Wissen oder der Sprache, ob im politischen Einflussspiel, ob in der Definition zukünftiger Lebensentwürfe, revolutionieren die Menschheit.

Deutschland kann nicht einmal passiv in allen Bereichen davon profitieren, weil digitale Infrastrukturen ungenügend und nicht überall geschaffen wurden. Auch in Frankfurt sind Glasfasernetze nicht flächendeckend vorhanden. Peinlich, lächerlich, unverzeihbar! Aktiv spielt Deutschland kaum eine Rolle. Es sind Amerika, Indien und Israel…und China, diese furchtbare Diktatur.

Schließlich war, Krieg ist kein Mittel der Politik die Beruhigungstablette, die es uns ermöglichen sollte, den Lebensstil vieler Menschen gnadenlos über Jahrzehnte durchzuhalten. Wenn es Probleme gab, wurde bezahlt und das Do-not-disturb-Schild vor deutschen Grenzen aufgestellt. Dadurch sind wir geostrategisch und geopolitisch sowohl gedanklich-strukturell als auch militärisch nicht verteidigungsfähig.

Autokratien gegen Demokratien

J.S.: Deutschland und die europäische Union sind nicht verteidigungs- und damit abschreckungsfähig?
Xi und Putin haben der gesamten Weltöffentlichkeit vor wenigen Monaten eine Lektion erteilen wollen, die wir ernst nehmen sollten. Sie sagten in einem Interview, dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Autokratien und nicht mehr der Demokratien sei. Ich empfehle, diesen Satz sehr ernst zu nehmen.

P.M.W.: Ich versuche nun, von der Geopolitik zu unserem Biotop Frankfurt zu kommen: Welche Rolle kann die Paulskirche als Ort für unsere jetzige Auseinandersetzung mit der Demokratie spielen?
Die Paulskirche ist ein reales Symbol. Wir haben viele solcher Orte in Deutschland, aber das Hambacher Schloss und die Paulskirche sind zwei sehr zentrale Momente, wo Demokratie und das Selbstbewusstsein des Bürgers verhandelt wurden. Das Paulskirchenjubiläum wird ein konstruktives Projekt, wenn wir Menschen motivieren und mobilisieren nicht nur für diesen Augenblick, sondern auch für die Zeit danach.

„Die Paulskirche ist ein reales Symbol

Mir macht Demokratie Lust, Ihnen auch? Deshalb müssen wir als Stadtgesellschaft viele Formate anbieten, Diskussionsräume schaffen, auch streitige, vor allem jungen Menschen – denn sie sind die Zukunft – Demokratie als etwas Wunderschönes anbieten, das sie konkretisieren. Die öffentlichen Festlichkeiten sind eine Initialzündung.

P.M.W. Angesichts der Feierlichkeiten des Jubiläums: Ist eine solche Feier eine zeitgemäße Form?
Unser Gedächtnis muss sich erinnern, wie viele Menschen für Demokratie und Freiheit gestorben sind und auch heute noch sterben, wie in der Ukraine, wie in Belarus, wie in der Türkei, wie in so vielen Teilen der Welt. Wir erreichen aber mit unseren ritualisierten Formen nur bestimmte Menschen: geladene und privilegierte.

Was wir brauchen, ist eine Massenbewegung, in der viele kleine Puzzleteile die Bedürfnisse der Menschen repräsentieren. Dazu könnte auch das Haus der Demokratie helfen. Nur: Es gibt zu wenig Projekte und nie zu viele. Demokratie ist nicht nur ein Thema für Jubiläen. Es kommt nur zu einem Jubiläum, wenn man sich das ganze Jahr um Demokratie gekümmert hat. Ansonsten kann so ein Jubiläum auch eine sehr traurige Veranstaltung werden.

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Zur Person: Michel Friedman, geboren 1956 in Paris, ist Philosoph, Publizist und Buchautor. Er ist Mitglied der Bundesstiftung Orte der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland und Mitglied der Bundesstiftung Jüdisches Museum Berlin. Friedman moderiert außerdem das Demokratie-Forum des Hambacher Schlosses.

>> Dieses Interview erschien auch in der Mai-Ausgabe des JOURNAL FRANKFURT (5/23).
 
17. Mai 2023, 19.44 Uhr
Jasmin Schülke/Paula Macedo Weiß
 
 
Fotogalerie:
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