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Foto: Gaby Gerster
Foto: Gaby Gerster

Michel Friedman

Der Schmerz ist hungrig

Michel Friedman hat ein erschütterndes, radikales Buch geschrieben. In „Fremd“ erzählt er von dem Gefühl, sich immer falsch zu fühlen, überall. Am heutigen Mittwochabend geht es im Literaturhaus um Friedmans Werk.
Wir kennen Michel Friedman. Natürlich nicht. Das, was wir kennen, ist die vor Selbstbewusstsein scheinbar nur so strotzende öffentliche Figur. Den eloquenten und streitbaren Gesprächspartner. Den Talkmaster, dessen Sendungsbewusstsein so groß zu sein scheint, dass er es oft nicht aushält, sein Gegenüber ausreden zu lassen und ihn stattdessen am Arm packt, um ihn zu unterbrechen und zu belehren. Und was wir selbstverständlich auch alle kennen, das ist der gefallene Mann, der Mann mit der Affäre, Stichworte: Prostitution, Mädchenhandel, Kokain. Jetzt hat Michel Friedman ein Buch geschrieben. Es trägt den Titel „Fremd“, und es ist kein bisschen eloquent, vielmehr zögernd; fast, wenn es so etwas gibt, ein sprachloses Buch, in dem oft nur zwei oder drei Worte in einer Zeile stehen. Ein Prosagedicht, der Einsamkeit, der Verzweiflung abgerungen. „Fremd“ ist keine Autobiografie, aber ein autobiografischer Text, der universelle Empfindungen wie Heimatlosigkeit und fehlendes Zugehörigkeitsgefühl, Verzweiflung und Hilflosigkeit zum Thema hat.

Man kann Michel Friedman mögen oder nicht; das ist nicht wichtig, denn „Fremd“ lässt sich auf einer beliebigen Seite aufschlagen und zitieren, und jedes Zitat ist anrührend und niederschmetternd zugleich. So hebt Friedman an zu sprechen: „Ich bin auf einem Friedhof geboren./Schmerz,/der keinen Anfang kennt, der kein Ende kennt. Manchmal leise,/manchmal laut./Manchmal versteckt er sich. Launisch ist er,/hungrig ist er,/hinterhältig./Meine Mutter,/mein Vater,/meine Großmutter: Überlebende./Trauernde./Traurige./Lebenstraurige.“ Das ist die Grundierung, die Tonlage. Friedmans Eltern und die Großmutter überlebten den Holocaust, gerettet von Oskar Schindler. Friedman wurde 1956 in Paris geboren, und seit frühester Kindheit fühlt er sich stigmatisiert, als Jude, als Staatenloser. Der erste Ausweis von den UN, so schreibt er, sei ein „Unsicherheits-Pass“, der an jeder Grenze für besonders lange Kontrollen, seltsame Blicke, Angst gesorgt habe. 1965 siedelte die Familie nach Deutschland über. Eine Entscheidung, die Friedman nie verstanden hat, nicht als Kind, nicht als Erwachsener. „Warum“, so schreibt er, „in das Land der Mörder?/Darauf nie eine Antwort von euch/Nicht einmal ausgewichen seid ihr./Keine Lügen,/keine Märchengeschichten,/nur Schweigen.“

Die Behörden sind Angstbehörden, behandelt wird bereits das Kind als Ausländer, weiß aber selbst nicht, was es ist: Ausländer, Inländer. Das sind nur Worte, hinter denen sich genau jenes Gefühl verbirgt, das Friedmans Buch den Titel gegeben hat. Doch „Fremd“ hat eine über das Persönliche herausweisende Implikation. Friedman stellt die Frage nach Flucht und Heimatlosigkeit zwar vor dem Hintergrund seines eigenen Erlebens, überträgt seine Erfahrungen jedoch auch auf die Migrationsbewegungen der Gegenwart. So wie er sich selbst „Irgendwo im Nirgendwo“ hängen sieht, auf ein 
Wir blickend, dem er sich nicht zugehörig fühlt; vor dem er sogar Angst hat, stellt er im Hinblick auf den Umgang mit Fremden fest: „Was ist der Unterschied zwischen einem Flüchtling und einem gern gesehenen Ausländer? Die Kreditkarte.“ Das Schicksal seiner Eltern und seiner Großmutter hat von Beginn an einen Schatten auf Friedmans eigenes Leben geworfen: „Ihre Freude war kurz./Ihre Trauer war ewig.“ Hier stellt ein Mensch Fragen, auf die es keine Antworten gibt, weil sie das Fassungsvermögen, die Formulierungsmöglichkeiten übersteigen. Die Erinnerung ist da, und sie tut weh. Auf dem Jüdischen Friedhof in Frankfurt lässt Friedman die Toten miteinander sprechen. Am Ende des Buchs schildert Friedman die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes als einen geradezu paranoiden Augenblick. Jetzt, so denkt er, müsste er dazugehören. Aber er, lebenslang ein Fremder, will nur weg. Es fühlt sich alles falsch an; er fühlt sich falsch an.

Man hätte Michel Friedman dieses Buch nicht zugetraut. Nicht, weil sein Intellekt unterschätzt worden wäre, beileibe nicht. Aber hier lässt er alle Masken fallen. Er steht in Zukunft, bildlich gesprochen, nackt vor seinem Publikum, vor seinen Zuhörern, auch vor seinen Feinden. Vielleicht ist das gerade der Gedanke dahinter: sich zu schützen, indem man sich angreifbar macht. Zu verlieren hat Michel Friedman nichts.

Am Mittwochabend um 19.30 Uhr liest Peter Schröder vom Schauspiel Frankfurt aus Friedmans Werk. Moderiert wird die Lesung von Shelly Kupferberg. Darüber hinaus ist Hadija Haruna-Oelker als Gesprächspartnerin geladen. Die Saaltickets für die Hybrid-Veranstaltung sind bereits ausverkauft, jedoch können online noch Streaming-Tickets erworben werden.

Michel Friedman: Fremd. Berlin Verlag, 
176 Seiten, 20 Euro. 
Lesung: Frankfurt, Literaturhaus, 12. Oktober, 19.30 Uhr, Streaming-Ticket: 5 Euro.
 
12. Oktober 2022, 12.53 Uhr
Christoph Schröder
 
 
Fotogalerie:
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