Unsentimental, fein beobachtet und angereichert mit tollen Figuren: Tommie Goerz' Roman „Im Schnee“ beschwört auf zarte Weise eine untergegangene Welt herauf.
Christoph Schröder /
Kennen Sie das: Sie greifen zum Buch eines Autors, den Sie bislang gar nicht gekannt haben. Irgendetwas daran hat Ihnen gefallen; möglicherweise das auf eine unzeitgemäße Weise schlicht gestaltete Cover. Oder einfach nur der Titel. Da schaut man mal rein. Und dann bleibt man hängen. So ging es mir mit „Im Schnee“, dem neuen Roman von Tommie Goerz, den ich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, bislang allenfalls als Namen kannte. Und das ist noch nicht einmal sein richtiger Name, denn Tommie Goerz ist ein Pseudonym von Markus Kliesch, geboren 1954 im Fränkischen.
Er hat als Texter und Kreativer in der Werbung gearbeitet, bevor er dann anfing, Regionalkrimis zu schreiben; ein Genre, das von manchen Menschen geradezu mit Verachtung gestraft wird, unverständlicherweise. Zehn Fälle hat er rund um seinen fränkischen Kommissar Friedemann „Friedo“ Behütuns geschrieben; außerdem ein Buch über fränkische Wirtshäuser. Dann kam der Roman „Im Tal“, den ich nun ganz bestimmt auch noch lesen werde.
Ein Tod im fiktiven Dorf
Und nun eben „Im Schnee“. Wenn Sie einmal einen Roman des Bestsellerautors Robert Seethaler gelesen haben, könnte Ihnen der Gedanke kommen, dass Robert Seethaler solche Bücher schreiben möchte wie Tommie Goerz sie schreibt. Keine Häme, kein Versuch, Autoren gegeneinander auszuspielen, aber im Vergleich zu einem Buch wie „Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler kommt mir „Im Schnee“ wärmer vor, trotz des Titels, etwas feiner beobachtet und etwas stimmiger gezeichnet in den Figuren. Aber es ist Geschmackssache, ganz bestimmt.
„Im Schnee“ ist ein Dorfroman. Keiner, der die Dinge nostalgisch verklärt. Ein Buch, das den gegenwärtigen Zustand genau einfängt und in Rückblicken zeigt, was das Dorfleben einmal ausgemacht hat. Das Dorf ist fiktiv und heißt Austhal; es muss sich irgendwo im Fränkischen befinden, vielleicht im Fichtelgebirge. Der Auftakt des Romans ist beinahe ein Gemälde: Der alte Max steht am Fenster seines kleinen Hauses und blickt nach draußen auf die Apfelbäume. Es hat zu schneien begonnen, und Max blickt in die friedliche, sanfte, gedimmte Welt.
Bis er ein Geräusch hört: „Irgendwann drang das Totenglöckchen durch die Stille, zuerst nur ganz leise, dieses Bimbimbimbim vom Kirchturm. Wie von weit, weit weg. Max hatte es zunächst gar nicht gehört, und als er es schließlich wahrnahm, war es, als gehörte es dazu. Zum Fallen des Schnees, zu den Mützen auf dem Zaun, zu diesem so ruhigen Weiß. Als müsste es so sein.“
Keine heile Welt
Gestorben ist der alte Schorsch. Der alte Schorsch war Max’ bester Freund, schon seit Kindheitstagen, und auch noch ein bisschen mehr als nur der beste Freund. Der Max hat nie geheiratet. Das Dorf ist gespalten. Tommie Goerz benutzt nicht Begriffe wie „Strukturwandel“, er macht sie sichtbar. Es gibt ein Neubaugebiet; die Neubewohner leben strikt getrennt von den Einheimischen; man bleibt weitgehend unter sich.
Das Haus vom Max heißt „Gleis drei“, weil es so nah am Gleis steht; an jenem Gleis, von dem aus früher das Holz abtransportiert wurde. Nun kommt auch noch ab und an ein Zug, der manchmal einen Touristen ausspuckt, der Sehnsucht hat nach einer heilen Welt, die es nicht mehr gibt. Einen Bäcker oder einen Metzger gibt es auch nicht mehr. Der Schorsch ist also tot. Und was machen die alten Leute im Dorf, wenn einer von ihnen stirbt? Sie sitzen in der Nacht beieinander, halten Totenwache und erzählen sich Geschichten. In diesen Geschichten entsteht eine Art Dorfchronik, werden alte Feindschaften rekapituliert, aber genauso wird eben auch deutlich, nach welchen Gesetzen ein Dorf in früheren Zeiten funktioniert hat.
Wer ist der Autor?
Tommie Goerz, so hat er es in einem Interview erzählt, wurde in Erlangen geboren; als er zehn Jahre alt war zogen seine Eltern mit ihm aufs Land, Mitte der 1960er-Jahre. Er habe das, sagt Goerz, als eine Befreiung erlebt, weil er Dialekt sprechen durfte. Aber er verklärt nichts. Er schreibt schnörkellose, unsentimentale, klare Sätze und entfaltet darin auf noch nicht einmal 200 Seiten trotzdem ein so anschauliches Panorama eines Soziotops – und das Porträt eines bemerkenswerten Mannes, der nicht weiß, dass er bemerkenswert ist. Er hat sein Wissen und seine Erinnerungen. Das genügt für einen wirklich wunderbaren Roman.
Info Lesung, Ffm: Literaturhaus, Schöne Aussicht 2, 21.5., 19.30 Uhr, Eintritt: 12 Euro
JOURNAL FRANKFURT Gewinnspiel: Wir verlosen 3 × 2 Karten zur Lesung. Teilnahmeschluss: 14.5. Kennwort: „Schnee“ Mehr Informationen unter journal-frankfurt.de/gewinnspiele