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Foto: Günzel Rademacher
Foto: Günzel Rademacher

Der Ernst Neger Komplex im Mousonturm

Narhallamarsch

Mit der Konzert-Performance „Der Ernst Neger Komplex“ setzt sich Oliver Augst mit seinen Freunden John Birke und Brezel Göring am 5. und 6.2. im Mousonturm mit dem Gute Laune-Terror auch jenseits der Fastnacht auseinander.
JOURNAL FRANKFURT: Nach Brecht/Eisler, Fassbinder/Raben, Matthias Beltz und Christian Anders nun also Ernst Neger. Wie passt der „singende Dachdeckermeister“ in diese illustre Riege, worin liegt der Reiz, sich mit dem Mainzer und seiner „Kunst“ auseinanderzusetzen?

Oliver Augst: Neben den genannten Projekten gab es u.a. auch das Hörspiel VOLKSLIEDMASCHINE und eine CD mit neubearbeiteten Volksliedern AN DEN DEUTSCHEN MOND... insofern steht ein Phänomen wie Ernst Neger, dessen Lieder so ziemlich jeder kennt und mitsingen kann, die also im besten und schlimmsten Sinne volkstümlich sind, in guter Gesellschaft innerhalb des größeren von mir seit Jahren verfolgten Projekts ARCHIV DEUTSCHLAND. In diesem Fall ist es auch ein spezieller Blick auf Nachkriegsdeutschland, in das ich hineingeboren wurde und das einem aber auf den Fernsehaufnahmen der Mainzer Fastnacht irgendwie peinlich und sonderbar fremd vorkommt. Herr Neger steht hierbei als so etwas wie der kleinste gemeinsame, allgemeingültige Nenner des sehnsüchtigen, Sinn suchenden Menschen, eigentlich der kompletten Skala aller Ab- und Beweggründe des Daseins. Bei Ernst Neger findet man eben wunderschöne, fast schüchterne musikalische Momente aber auch den schlimmsten Mitklatsch- und Gutelaune-Terror. Das sind Porenöffner, wie ich sagen würde.

Fastnacht, Fasching, Karneval – es gibt Menschen, für die ist das ein No Go. Wie kann man sich sinnvoll (wie geteasert wurde) mit diesem Phänomen auseinandersetzen?

Ich bin selbst kein „Fastnachter“, aber es gibt keinen Grund diese uralte Tradition mit seinen Jahrhunderte zurückreichenden Wurzeln als Thema für eine künstlerische Auseinandersetzung auszuschließen, ganz im Gegenteil: Karneval ist Teil unserer Kultur, ob wir wollen oder nicht. In der bildenden Kunst gibt es super Beispiele, wie diese bösen Themen - wie Naziästhetik, Spießertum, Pornografie, Festzeltprimitivität, Alkoholverherrlichung, Fussball, Fernsehstumpfsinn etc - immer wieder sehr treffend, humorvoll und verwundend bereichernd thematisiert und verarbeitet wurden, zb von Martin Kippenberger, Sigmar Polke aber auch Albert Oehlen u.v.a. mehr... das hat mich immer beindruckt und inspiriert.
Es geht uns aber auch gar nicht so sehr um den Karneval. Was uns interessiert ist das Sentiment oder vielmehr der Affekt, der sich da in so einer Prunksitzung ausdrückt. John Birke schreibt in seinem Text ja über Affektbekämpfung. Das ist eine ganz typische intellektuelle Haltung. Aber dafür muss man sich erstmal mit dem Affekt beschäftigen! Es geht wie immer darum, aus dem Blickwinkel des eigenen Hier und Jetzt, einen Punkt der Berührung zu finden. Mit Humor und Experimentierfreudigkeit, nicht denunzierend aber auch nicht anheimelnd, versuchen wir auf schmalem Grat, durch eine historisch sehr ambivalente deutsche Sprach- und Musiklandschaft zu wandeln. Wenn du so willst, ist das eine kritisch-unterhaltsame Reflexion eines deutschen Phänomens - in Ironie, Überzeichnung und Reduktion - und eine Suche nach dem berühmten magischen, wunden, treffenden Punkt, analytisch und hingebungsvoll gleichzeitig. Und No-Gos kennen wir sowieso eigentlich nicht. Wie sagt doch Albert Oehlen so schön dazu "Die Reihenfolge (für eine künstlerische Arbeit) muß sein: erkennen, negieren, eliminieren und trotzdem machen!”

Mainz, Köln, Düsseldorf, Frankfurt und Klaa Paris können schon (optisch wie rhythmisch) mit Rio de Janeiro nicht konkurrieren; wenn man an die Basler Fasnacht und den Mardi Gras in New Orleans denkt, ist da zwar auch der Kommerz im Spiel, aber auch noch weitaus mehr Rituelles. Bei Dir/euch geht’s dann doch mehr um „Heile Heile Gänsje“ & Co…?

„Heile Heile Gänsje“ ist mehr als ein Faschingshit. Das Lied hat seine Ursprünge im Volkslied. Ernst Neger war es damit auch ganz ernst, als er das 1965 singt, “Du armes Mainz, ich bau Dich wieder auf.“ Da tun sich natürlich Abgründe auf, da geht es darum, was Deutschland nach '45 sein soll und darf. Wie gesagt, es geht uns nicht um Fasching. Fasching ist ein Ventil, ein Ritual, das es den Deutschen erlaubt hat und erlaubt, sich selbst anders zu erleben, sich zu öffnen und gleichzeitig zuzudröhnen. Wie Jan Delay über deutsches Fernsehen mal gesungen hat: „Ich genieße die Offenbarung einer peinlichen Nation.“

Allein um Kritisieren und Parodieren geht es aber nicht. Aber statt „betreten zur Seite zu schauen“ lieber „Momente echte Berührungen“ suchen klingt erst mal irritierend. Wie geht das denn? Liederabend statt Tusch und Sitzung, Schönheit in der Scham entdecken, die Lieder in den „ Grenzbereich von Musik, Hörspiel, Literatur und Entertainment “ rücken?

Das Ziel ist immer Schönheit, und zwar eine Schönheit ohne Beschönigung (wie das echte “Volklied” im Gegensatz zum “volkstümlichen Lied” a la Musikantenstadel oder Florian Silbereisen schön sein kann) Diese Schönheit ist nichts Statisches, sondern sucht sich ständig neu zu definieren. Außerdem gehe ich dabei wirklich von mir selbst aus. Ich würde “Heile Heile Gänsje” oder “Es ist alles nur geliehen” von Heinz Schenk nicht singen, wenn ich es nicht auf irgend einer bestimmten Ebene auch gut finden würde. Und wer ehrlich ist, der kennt diese Ambivalenz, die wir da benennen, vom Musikhören. Man findet es vielleicht vom Kopf her unsäglich, kann aber trotzdem davon berührt sein.

Schaut man sich die Liste des „Materials“ an, so gibt’s da mehr als „Humba Humba Tätärä“ und „Am Aschermittwoch ist alles vorbei“ … Wir sehen Namen wie Heinz Schenk, Paul Kuhn, Max Greger, ja sogar Glenn Miller und Count Basie im Repertoire, dazu die „Tatort“-Melodie – wo ist da die (konzeptionelle) Klammer?

„Alles muss haargenau in eine tosende Ordnung gebracht werden“ wie Antonin Artaud so schön für uns vorformulierte... Der KOMPLEX beinhaltet eben all diese verschiedenen gehasst/geliebten Helden der Unterhaltungsmusik, mit denen wir alle aufgewachsen sind, die wir verinnerlicht, abgespeichert haben und als künstlerisches Antibild in uns tragen, und als weitest entfernte ästhetische Pole in unsere kulturellen Bewertungs - und Entscheidungskriterien unablässig hinein spielen. Es geht also auch immer um die Frage, wer wir sind. Und genau wie die Big Band bei uns die entnazifizierte Version der alten Blaskapelle ist – übrigens nach den USA die besten Big Bands der Welt -, genauso ist Glenn Miller oder die funky Tatort-Melodie Teil unserer mehrfach gebrochenen Identität als Deutsche.

Ein Wort zur Auswahl der Kollaborateure, Brezel Göring, John Birke und dem marburgjazzorchestra*. Was sagt uns das über die Interpretation(en) des Abends?

Brezel und John sind alte Partner von mir. Zuletzt haben wir zusammen an der Volksbühne in Berlin ein Live-Hörspiel auf die Bühne gebracht, das sich mit ALLEN TOTEN des Jahres 1914 beschäftigte... das wurde übrigens vom Hessischen Rundfunk koproduziert und auch auf HR2 gesendet. Brezel bringt genau die Mischung aus Anarchie und Schönheit, Kritik und Hingabe an Popmusik mit, um die es gehen soll. Mit Stereo Total hat er das Genre Easy Listening hierzulande quasi neu erfunden und gleichzeitig auf ein ganz anderes Niveau gehoben. Brezel wird die Rolle des Conferenciers und Anheizers übernehmen, während ich mich aufs Singen konzentriere. John schreibt schon seit Jahren Texte für mich und performt auch mit mir auf der Bühne, wobei er sich dieses Mal auf die Rolle des Textzulieferers beschränkt hat. Und beim marburgjazzorchestra* hatten wir das große Glück, ein Ensemble zu finden, das so viel Spielfreude und Mut bei gleichzeitiger hoher Professionalität mitbringt, dieses Material mit uns zusammen zu erarbeiten und sich von Jonathan Granzow, unserem Dirigenten, auf den Leib arrangieren zu lassen. Eine Traumbesetzung!

Was bedeutet der Komplex im Titel? Ein Hinweis auf eine „ganzheitliche“ Betrachtungsweise (nicht nur deutscher) Unterhaltungskultur?

Der Titel ist ein Wortspiel: Zum einen machen wir ein ganzes Feld der Unterhaltungsmusik auf. Es geht also nicht um Ernst Neger als Person, sondern um den Komplex Schlager oder volkstümliche Unterhaltung. Zum anderen gibt es da dieses schwierige Verhältnis der Deutschen, aber auch von mir selbst, zu dieser Art von Wohlfühl- und Spaßkultur, eben schon fast ein Komplex, also im psycholigischen Sinne, ein Spaß-Komplex. Und dann ist diese Musik auch nicht einfach nur simpel und stumpf, sondern sie wirkt auf teilweise sehr komplizierte, widersprüchliche Weise, ist eben auch auf ihre eigene Art komplex...

… und am Ende klatscht das Bildungsbürgertum, der Intellektuelle im M'Turm-Publikum begeistert mit … Stellt sich die Fragen: wer (oder was) wird am Ende entlarvt?

Mitklatschen fänd ich toll! Aber die Fragen werden bleiben: Ist Ernst Neger der sprichwörtliche „kleine Mann“, also der Held der politisch Machtlosen und Resignierten, die auch ihren Spaß und ihren eigenen Ausdruck beanspruchen, oder wird jemand wie Ernst Neger von „oben“ dirigiert, um die Masse möglichst unpolitisch und anspruchslos zu halten? Gibt man sich durch Adorno geschlagen, der über den Schlager gesagt hat, er „beliefere die zwischen Betrieb und Reproduktion der Arbeitskraft Eingespannten mit Ersatz für Gefühle, von denen ihr Ich-Ideal sagt, sie müssten sie haben.“ Oder darf ich mich bei so was als kritischer Mensch auch ein bisschen wohlfühlen, die eine oder anderer Träne verdrücken, und was sagt das über mich aus?
Man darf halt nicht vergessen, dass die Mainzer-Fastnacht jahrelang DIE meistgeschaute Fernsehsendung der BRD war und heute 4 Millionen Menschen jede Woche Musikantenstadl schauen. Das ist einfach die Realität! Daran kann man als Künstler nicht einfach nur vorbeischauen. Deswegen halte ich es mit dem großen Hanns Eisler der sagte: "Die modernen bürgerlichen Komponisten leben gleichsam wie in einem Glashaus, getrennt von der Wirklichkeit. Ihre Werke spiegeln nicht die großen Kämpfe unserer Zeit wider. Sie sagen nur aus vom Innenleben der Komponisten selbst, oder sie haben rein technischen Charakter. Wenn der Adorno nur einmal verstehen würde, daß Musik von Menschen für Menschen gemacht wird!" Ein bisschen Humbatäterä, tut der Kunst in jedem Fall gut.

>> Der Ernst Neger Komplex, Ffm, Mousonturm, 5.2., 20 Uhr Eintritt: VVK 19,–

Foto: guenzel.rademacher.fotografie
 
24. Januar 2016, 15.30 Uhr
Detlef Kinsler
 
 
Fotogalerie:
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