Das Theaterstück „Freie Sicht“ behandelt die Themen Terrorangst, Sicherheitswahn und Kontrollverlust. Es zeigt, was geschieht, wenn sich eine Gesellschaft nur von Angst und Gefühlen leiten lässt – nämlich eine Katastrophe.
Martina Schumacher /
In diesem Stück gibt es keine Rollen. In diesem Stück gibt es nur Stimmen. Und zwar viele verschiedene, die von Terrorangst und Sicherheitswahn reden. Dabei sind die Figuren auch keine Gruppe von Individuen, sondern werden mehr und mehr zu einem Schwarm, der sich von diesen Gefühlen leiten lässt. „Freie Sicht“ von Marius von Mayenburg ist ein Stück, welches 2008 als Auftragswerk des Malthouse Theatre in Melbourne entwickelt und unter dem englischen Titel „Moving Target“ in Adelaide uraufgeführt wurde. Nun ist es auch in Frankfurt zu sehen, inszeniert von dem Theaterensemble Ankunftshalle T.
Die Ankunftshalle T zeigt bei dieser Inszenierung ohne viel Kulisse, aber mit viel Wort-Ping-Pong, wie ein einfaches Paket und ein kleines Mädchen ein ganzes Volk in Angst versetzen kann, wenn sich die Menschen von ihren Gefühlen und Ängsten leiten lassen, verunsichert werden und anschließend die Kontrolle verlieren. Es beginnt mit einem einzigen Vorwurf gegen das kleine Mädchen: „Sie hat sich verändert.“ Doch wo andere Stimmen noch anfangs dagegen protestieren, gehen mit der Zeit alle Einwände und Bedenken gegenüber der Gefahr, die angeblich von dem Mädchen ausgeht, unter.
Gefühlte Fakten bestimmen zunehmend die Entscheidungen des Schwarms, dessen fehlende Individualität die Schauspieler mit gleichfarbiger Kleidung hervorheben. Das Paket wird plötzlich zu einem Behältnis, in dem eine Bombe platziert sein soll; das kleine Mädchen zur Terroristin, bloß weil sie von einer Überwachungskamera aufgenommen wurde als sie das Paket nach draußen brachte. Am Ende fehlt schließlich ein rationales Korrektiv, und obwohl konkrete Bedrohungen und Terrorismus nicht thematisiert werden, werden dennoch Gefahren beleuchtet, die durch Wahrnehmung und Verarbeitung solcher Bedrohungen entstehen, die Angst beginnt bei diesem Stück im Kopf.
Den Schauspielern der Ankunftshalle T gelingt eine Inszenierung, die den Zuschauer darüber nachdenken lässt, wovor man eigentlich mehr Angst haben sollte: Vor der Bedrohung durch Terrorismus oder der eigenen Angst davor? Und wohin treibt eine Gesellschaft, die sich nur noch von Ängsten und Bauchgefühlen leiten lässt, und in der rationale Argumente immer weniger Gehör finden? Das Stück hat darauf eine Antwort: Es führt zur Katastrophe. Denn als gegen Ende der titelgebene Satz fällt „Sie sollen den Vorhang aufziehen, so dass wir freie Sicht haben“, lässt die Auflösung den Zuschauer mit einem dicken Kloß im Hals zurück.