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Foto: Harald Schröder
Foto: Harald Schröder

Interview mit Ossi Urchs

„Ohne Sex kein Internet“

Internet-Legende Ossi Urchs ist gestorben. Vor 14 Jahren im JOURNAL - ein Interview, dass vieles vorwegnahm, was heute selbstverständlich ist. Tauchen Sie ein in die Zeiten von WAP-Handys und Pornos als Technologie-Treiber.
Journal Frankfurt: Herr Urchs, wie lang nutzen Sie das Internet pro Tag?
Ossi Urchs: Mit Sicherheit überdurchschnittlich, auch privat, sogar stärker als den Fernseher. Dabei hat das Internet nicht etwa das Fernsehen abgelöst, sondern Fernsehen ist bei mir zu einem Hintergrundmedium geworden, ähnlich wie das Radio. Ich sitze am Rechner und lasse im Hintergrund das Programm von Nachrichten- oder Musikkanälen laufen.

Besitzen Sie auch den ganzen technischen Schnickschnack, der rund ums Internet entstanden ist?
Natürlich setze ich mich beruflich mit den Möglichkeiten neuer Kommunikationstechnik auseinander. Nutzen kann man die Geräte aber nur zum Teil. WAP-Handys beispielsweise sind sicher noch nicht so prickelnd. Aber sobald diese Technik effektiver wird, werde ich dabei sein. Darüber hinaus sind technische „gadgets“ jeder Art meine liebsten Spielzeuge. Es macht einfach Spaß, sich damit die Zeit zu vertreiben.

Was nicht alle so sehen. Zwar hat sich auch in Deutschland das Internet so schnell durchgesetzt wie kein anderes Medium zuvor, doch dieser Prozess wurde immer wieder von kulturpessimistischen Obertönen und ordnungspolitischen Kontrollfantasien begleitet: Nicht Zukunft, sondern Verletzungen der Rabattgesetze, Datenschutzprobleme und Einnahmeverluste des Fiskus, Jugend- und Verbraucherschutz, Sicherheitsbedenken heißen die Relevanzthemen im hiesigen Blätterwald. Ist Zukunft in der deutschen Hausordnung überhaupt vorgesehen?
Sicherlich hat das Internet auch in Deutschland eine Riesenzukunft, die Zuwachsraten sind immer noch phänomenal. Aktuelle Schätzungen gehen von bereits 16 Millionen Nutzern aus. Das bedeutet eine Verdoppelung innerhalb eines halben Jahres. Andererseits ist auch das Bedenkenträgertum in Deutschland beträchtlich. Ich halte dies jedoch nicht für eine nur spezifisch deutsche, sondern für eine europäische Denkweise. Die Amerikaner verfügen noch immer über ihren Pioniergeist, die Go-West-Mentalität. Die Suche nach neuen Grenzen fand dort in den vergangenen Jahren eben im Cyberspace, im Internet, statt. Europa dagegen gebärdet sich wie eine Festung, man könnte das auch als Angst vor Neuem, vor Unbekanntem bezeichnen, und die ist bei der Entwicklung eines neuen Mediums nicht gerade hilfreich. Neue Technologie ist, denke ich, immer von Ängsten begleitet gewesen: Im 19. Jahrhundert haben sie sich sich ernsthaft darüber Gedanken gemacht, ob das menschliche Gehirn überhaupt in der Lage sei, den schnellen Wechsel der Eindrücke zu verarbeiten, der durch das Fahren in Autos und mit der Eisenbahn hervorgerufen wird.

Heute befürchten Pädagogen das Ende der Schriftkultur und damit Gefahren für die Jugend. die von Realitätsverlust und Vereinsamung vor Monitoren bis zum Horrorszenario des radikalisiert Verblendeten reichen, der mit Papas Schrotflinte Jagd auf Lehrer macht.
Was zum Teil eigentlich gar nicht zu verstehen ist, denn man kann das Internet doch ebenso gut als Renaissance der Schriftkultur deuten. Die Leute fangen wieder an, Briefe zu schreiben, nicht mehr auf Papier, sondern als E-Mail. Sic lesen viel mehr, weil das Internet zumindest bis vor kurzem - im Wesentlichen textbasiert war.

Also völlige Entwarnung von Ihrer Seite? Oder gibt es trotzdem berechtigte Bedenken?
Es ist immer die Frage, wen oder was man für eine Entwicklung verantwortlich macht. Ein Medium ist, wie jede andere Technologie, zunächst einmal wertfrei. Die Frage ist, was ich damit tue. Natürlich kann man mit dem Internet viele schreckliche Dinge anstellen. Man kann aber auch sehr viel Positives damit bewerkstelligen. Wenn man sich die Entwicklung des Internet anschaut, dann stellt man fest, dass es schon immer ein ganz gehöriges Selbstregulierungspotenzial hatte. Der Websurfer hat immer schnell gelernt, mit neuen Herausforderungen, auch in problematischen Bereichen wie Kinderpornografie oder Rechtsradikalismus, umzugehen, ohne auf staatliche Repressionen zurückgreifen zu müssen. Das ist allerdings in Deutschland besonders unterentwickelt. Der Deutsche sucht immer den Gesetzesrahmen, sucht Regulierungen, um einen Schritt nach vorn zu tun.

Im Internet ist eine gigantische Wirtschaftslobby im Begriff, die Welt zu kaufen. Stichwort: AOL übernimmt Time Warner. Wann erbeutet eine Internetklitsche den ersten deutschen Großkonzern?
Das hätte schon passieren können. AOL wollte zuerst nicht Time Warner, sondern Bertelsmann kaufen. Das scheiterte aber daran, dass Bertelsmann kein börsennotiertes Unternehmen ist. Eine Übernahme dieser Art hat aber trotzdem hier schon stattgefunden: Vodafone übernahm Mannesmann. Und Vodafone ist ja nicht nur ein Mobilfunkunternehmen, sondern vor allem ein Vorreiter des mobilen Internet.

Die Börsennotierungen der Internetfirmen basieren vor allem auf einem Vorschuss auf die Zukunft: Hohe Kurse, nicht weil hoher Umsatz da ist, sondern weil er erwartet wird. Wie groß wird die Branche denn nun tatsächlich werden?
Zunächst einmal wird das Internet dem Fernsehen gleichkommen. Dann aber werden sehr viele neue Aspekte dazukommen, denn das Netz erfasst immer mehr Lebensbereiche: Erst waren es die Universitäten, dann kamen die Büros, die Unternehmen, jetzt haben immer mehr Leute Internet zu Hause, in Zukunft werden sie es in der Tasche - mobil haben. Das Internet krempelt also sämtliche Lebensbereiche um, Arbeit, Freizeit, Lernen und Unterhaltung.

Das Internet ist nun auch hierzulande bereits Lifestyle geworden – eine ähnliche Entwicklung wie bei den Handys, die schnell über ihren unmittelbaren Nutzwert hinaus zum Ausdruck eines Lebensgefühls wurden. Das Image des Fernsehens hat dagegen gelitten, es besitzt nur noch Gebrauchswert. Kann das dem Internet ebenfalls blühen?
Selbstverständlich wird auch das Lifestyle-Potenzial des Internets eines Tages nachlassen. Das ist bei allen neuen Medien und Technologien so: Anfangs mit Trendpotenzial ausgerüstet, werden sie, wenn alles gut geht, zu Selbstverständlichkeiten. Als nächste Lifestyle-Produkte werden die sogenannten Internet-Appliances kommen, die Organizer, die Brille mit Internet-Projektion, Empfangsgeräte am Ohr.

Wann wird das Wachstum an eine Grenze kommen?
So schnell nicht. Auch wenn eines Tages fast jeder einen Zugang haben wird, ist noch lange nicht Schluss. Weil nicht mehr nur Menschen miteinander kommunizieren werden, sondern z. B. auch Heizungen, die per Internet ferngewartet werden, der Lebensmittel bestellende Kühlschrank, Haushaltsgeräte, die ihre Software updaten. Hier liegt ein Riesenpotenzial, das heute gerade erst angedacht wird. Irgendwann haben nicht nur Milliarden von Internet-Nutzern eine Adresse, sondern auch jeder Toaster, jeder Kühlschrank, jedes Auto.

Bleibt aber immer noch die Frage, womit man im Netz Geld verdienen kann. Informationen werden fast nur noch gratis angeboten, und die Bannerwerbung scheint auch bereits ausgereizt. Im Web wird es höchstwahrscheinlich nur noch ums Verkaufen gehen, um Kontaktvermittlung - und natürlich um Sex.
Sex, Sex, Sex gilt für jedes neue Medium. In dem Moment, in dem die Porno-Industrie ein Medium entdeckt, kann man das Medium als marktgängig betrachten. Das war bei VHS-Video nicht anders: Der Kampf der Systeme wurde damals unter anderem entschieden, dass im Gegensatz zu Sonys Betamax und Grundigs Video 2000 sich im VHS-Lager kein Übervater zu Wort gemeldet hat, der vorschreiben wollte, was über das Medium vertrieben werden darf. Bei VHS waren mehrere Anbieter auf dem Markt, die sich nicht gemeinsam gegen diesen Schweinekram wandten und damit war VHS am Markt. Auch CD-ROMs haben sich wesentlich über Pornos durchgesetzt. Porno-Sites waren auch ein Schrittmacher fiirs Netz: ohne Sex kein Internet.

Die unglaubliche Bandbreite des Internets erlaubt dem User sehr individuelle Nutzungen, während die früheren Massenmedien auch gemeinschaftsstifend waren — jeder redete montags über die große Samstagabend-Show. Treibt das Internet die Zersplitterung der Gesellschaft voran?
Tatsächlich treibt das Internet den Prozess der Personalisierung, das, was man wirtschaftlich Fragmentierung oder auch Partikularisierung von Märkten nennt, extrem voran. Aber hierin sehe ich keine Gefahr. Wenn ich in der Lage bin, punktgenau Angebote einzuholen, bleibt mir zum einen mehr freie Zeit, mich mit wichtigeren Fragen oder wichtigen Menschen zu befassen, und zum anderen bleibt es mir selbst überlassen, die Dinge, die ich für wichtig erachte, auch im Internet voranzubringen - etwa soziale Fragen und Themen, die mich persönlich interessieren.

Wenn meine Zeit nicht von technischen Problemen aufgefressen wird. Bringen neue Funktionen nicht immer auch mehr störanfällige Komplexität?
Komplexität lässt sich nicht reduzieren, sie wird weiter wachsen. Deshalb geht die aktuelle Entwicklung im Netz auch hin zu Software-Agenten, Programmen, die sich an meiner Stelle mit der Komplexität beschäftigen. Ich will ja gar nicht begreifen, wie eine Suchmaschine funktioniert, ich will nur eine bestimmte Information. Ergo werde ich einen Software-Agenten losschicken, der sich mit einer anderen Software herumschlägt und mir die gewünschten Ergebnisse zurückfunkt.

Sehen Sie diese technische Entwicklung nicht etwas zu rosig?
Für Spannung und Abenteuer ist sicherlich gesorgt. Ich denke jedoch, dass das Nachfragepotenzial nach Geräten, die einfach zu bedienen sind, und nach Service, der funktioniert, so groß sein wird, dass die Entwicklung nur diesen Weg der Integration gehen kann. Man möchte nichts weiter als mit seiner Oma kommunizieren, ein bestimmtes Musikstück oder Video vom Netz ziehen. Alles andere, die ganze Technik, interessiert mich doch gar nicht. Wenn ich mir heute einen MP3-Player anschaue, der sich mehr oder weniger selbstständig ins Internet einloggt, von mir gesuchte Dateien gezielt herunterzieht und wiedergibt, merke ich, wohin der Trend geht. Natürlich sind technische Systeme immer anfällig, und all diese Vernetzungsanforderungen bringen selbsrverständlich Probleme mit sich. Es werden auch neue Aspekte in der Beziehung von Mensch und Technik auftauchen, die bestenfalls fragwürdig sind. Aber was wäre auf der anderen Seite das Leben ohne Abenteuer - stinklangweilig!

Vernachlässigt wird unserer Meinung nach auch das Problem des Intemet-Analphabetentums - Stichwort »Africa offline«.
»Africa offline« ist ein großes und sehr ernstes Thema. Die Gefahr, dass es eine Spaltung der Gesellschaft gibt in diejenigen, die digital gebildet sind, und die, die es nicht sind, besteht in der Tat. Je mehr das Internet zu einer vorherrschenden Kulturtechnik wird, umso wichtiger wird es sein, in Zukunft über die damit verbundenen Kompetenzen zu verfügen. Hier besteht eine große gesellschaftliche Aufgäbe, insbesondere im Zusammenhang mit der Entwicklung der Länder, die man die Dritte Welt nennt. Dass sie lösbar ist, zeigt die Entwicklung in Indien, das sehr früh eine wirtschaftliche und technologische Chance im Inlernet gesehen hat und heute auf dem besten Weg ist, das Industriezeitalter zu überspringen und direkt ins Informationszeitalrer zu gehen.

Diese Entwicklung betrifft aber auch in Indien nur eine verschwindend kleine Gruppe, die den Internet-Turbo eingelegt hat, während der Rest des Landes noch mit der Alphabetisierung kämpft— von Intemetkompetenz ganz zu schweigen.
Im Verhältnis zur indischen Gesamtbevölkerung sind diese Firmenansiedlungen aus Bangalore, Heidarabat und Bombay, über die man in der Presse liest, tatsächlich nur eine kleine Minderheit. Dennoch hat diese relativ kleine Gruppe das Potenzial, eine Volkswirtschaft zu modernisieren. Für Afrika stehen die Chancen jedoch vergleichsweise schlecht. Hier ist die Politik und weniger die Wirtschaft gefragt.

Und was passiert mit den einkommensschwächeren Schichten in Deutschland? Wann gibt es Intemet-Rechner in den Stadtbüchereien, wann wird das Surfen endlich kostenlos?
In Zukunft werden für die reine Intemetverbindung keine wesentlichen Gebühren mehr erhoben werden. Die Internetunternehmen werden ihre Geschäfte im Wesentlichen mit Quality und Service machen, oder mit Mehrwertdiensten wie dem Vertrieb von Musik oder Filmen per Internet. Auch wird es unterschiedliche Nutzungsgrade und Angebote im Netz geben, die neben einem Grundzugang besondere Dienste wie etwa Konferenzen via Breitbandverbindungen gegen Bezahlung freischalten. Diese Geschäftsmodelle sind bereits alle in Vorbereitung, und mit deren Durchsetzung wird auch der Zugang zum Internet keine wirtschaftliche Frage mehr sein. Fast jeder wird sich diese Technik leisten können, so wie man sich heute ein Telefon leistet.

Sie waren einer der Ersten, die sich hierzulande mit dem Internet befasst haben. Hat es Entwicklungen gegeben, die Sie überrascht haben?
Vor allem die Geschwindigkeit, mit der die Kommerzialisierung im Internet Raum
greift, aber auch das Ausmaß, in dem Unternehmen bereits Internet und Intranet nutzen. Ich hätte nicht gedacht, dass ganze Volkswirtschaften sich in diesem Tempo radikal verändern, wie dies in den letzten fünf Jahren in den USA zu beobachten war. Technisch sind auch Dinge dazugekommen, die so nicht vorherzusehen waren, beispielsweise das Porenzial des world wide web. Der erste Webbrowser war ein einschneidendes Erlebnis - dass nur ein Feature, das man bisher nur von dem Macintosh-Programm Hypercard kannte, nämlich die Verlinkung per Mausklick in einem potenziell weltweiten Netz möglich machte.

Ossi Urchs, geboren 1954 in Köln, verstarb am 25. September 2014 in Offenbach am Main. Das Interview wurde im Sommer 2000 im Journal Frankfurt veröffentlicht, das Foto entstand in seinem damaligen Frankfurter Büro. Wir dokumentieren es hier in voller Länge.
 
25. September 2014, 20.19 Uhr
Klaus Janke/ Martin Herrchen
 
 
Fotogalerie:
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