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Foto: Harald Schröder
Foto: Harald Schröder

Interview mit Ina Hartwig

„Wir sind aufgefordert, bestimmte Tabubrüche nicht mitzumachen“

Als Kulturdezernentin verantwortet Ina Hartwig (SPD) den Geschäftsbereich „Mahnen und Gedenken“. Ein Gespräch über Erinnerungskultur, das Wiedererstarken rechten Denkens und die damit verbundenen Herausforderungen für die Kulturpolitik.
JOURNAL FRANKFURT: Frau Hartwig, als Kulturdezernentin verantworten Sie auch den Geschäftsbereich „Mahnen und Gedenken“ der Stadt Frankfurt. Welche Herausforderungen sehen Sie in diesem Zusammenhang, auch vor dem Hintergrund eines wiedererstarkenden rechten Denkens?
Ina Hartwig: Wir befinden uns aktuell in einer einschneidenden Zäsur. Die letzten Zeitzeugen, die dazu beigetragen haben, die Erinnerung wachzuhalten, sterben. Die Unmittelbarkeit, mit der diese Zeitzeugen beispielsweise an Schulen von ihren Erlebnissen berichtet haben, wird es zukünftig nicht mehr geben. Wir sind nun gefordert, selbst mit dieser Erinnerung umzugehen und den Nationalsozialismus in seiner gesamten erschreckenden Komplexität zu bewältigen und weiterhin aufzuarbeiten – denn diese Vergangenheit ist keineswegs vollständig aufgearbeitet. Deutschland hat in den vergangenen Jahren stets Anerkennung erfahren für die offene und ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, umso erschreckender ist das aktuelle Wiedererstarken rechten Denkens und des Antisemitismus. Die Art und Weise, in der so eindeutig die alten faschistischen Formeln wiederbelebt werden – als Formulierungen, Worte, Ressentiments, Gedankengebäude, die aus der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus auf uns zurückzukommen scheinen, wie Gespenster, die wiedererweckt worden sind – ist absolut fürchterlich.

Womit erklären Sie sich diese Rückkehr der „faschistischen Formeln“?
Eine Erklärung, die nicht gerade tröstlich ist, könnte sein, dass nationalistisches und antisemitisches Denken und Fühlen nie verschwunden sind. Und dass nun durch die Erfolge der AfD die Tabus gefallen sind. Eine andere Erklärung mit Blick in den Osten Deutschlands, wo die Wahlergebnisse noch erschreckender sind als in den alten Bundesländern, liegt in der doppelten Diktaturerfahrung. Zu zwölf Jahren nationalsozialistischer Diktatur kamen in Ostdeutschland noch 40 Jahre sozialistische Diktatur hinzu. In der DDR war Antifaschismus die Staatsdoktrin, ohne dass es je eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Schuldfrage gegeben hätte. Faschismus galt als Phänomen, mit dem man selbst nichts zu tun hatte. Wir wissen alle, dass auch in der DDR alte Nazis ihre Karrieren fortsetzten, wie in der Bundesrepublik.

In der öffentlichen Debatte wird gerne argumentiert, die AfD sei eine demokratisch gewählte Partei, die daher ebenso zu Wort kommen muss, wie alle anderen Parteien auch.
Das Thema Meinungsfreiheit wurde in den vergangenen Monaten auf geradezu absurde Weise diskutiert. Alle, die behaupten, sie könnten ihre Meinung nicht frei äußern, sind selbst der Beweis dafür, dass bei uns uneingeschränkte Meinungsfreiheit besteht. Etwas anderes zu behaupten ist eine Unverschämtheit.

Gehen die Medien Ihrer Ansicht nach richtig mit der AfD um?
Das ist eine gute und richtige Frage. Ich denke, im Großen und Ganzen haben die Medien, sofern wir von den öffentlich-rechtlichen und von den seriösen Presseorganen sprechen, verstanden, welche Verantwortung sie tragen. Durch die Art der Präsentation und den Platz, den sie bestimmten Menschen einräumen, wie sie mit ihnen sprechen, wen sie sprechen lassen, wirken die Medien auf die politische Stimmung in diesem Land ein. Ich beobachte, dass zumindest in den Printmedien bewusster mit dem Thema umgegangen wird. In den Talkshows ist das sicherlich anders. Die politischen Runden im Fernsehen meiner Kindheit hatten eine ganz andere Qualität. Es wurde sehr viel schärfer argumentiert. Heute sehe ich die Gefahr, dass das Argument abgewertet wird. Wir müssen daran arbeiten, dass wir mit Argumenten politisch kämpfen. Und wir sind aufgefordert, bestimmte Tabubrüche einfach nicht mitzumachen. Dazu gehört auch das Zitieren solcher Tabubrüche: indem ich sie zitiere, wiederhole ich sie. Ich halte viel davon, bestimmte Formulierungen zu ächten. Es muss Tabus geben, es gibt Dinge, die dürfen nicht gesagt werden. Und deshalb wiederhole ich sie auch nicht, wenn andere sie sagen. Diese Verantwortung betrifft uns alle.

Können wir nach Halle sagen, dass Deutschland seiner Verantwortung gerecht wird?
Wir haben in Deutschland eine ganz besondere Verantwortung, das muss man immer wieder betonen. Wir sind die Rechtsnachfolger der Täter, damit tragen wir eine Verantwortung, die sich nicht im Laufe der Zeit relativiert – sie bleibt immer bestehen. Und deshalb sind wir ganz besonders aufgefordert, als deutsche Politikerinnen und Politiker, aber auch als Zivilgesellschaft, eine klare Haltung für die Demokratie, für Pluralismus und gegen Rechtsextremismus, gegen Antisemitismus, gegen Homophobie und gegen jede weitere Form von Diskriminierung zu zeigen. Es ist eine Katastrophe, dass jüdische Menschen in Deutschland um ihr Leben fürchten müssen. Der Anschlag in Halle und der Mord an Walter Lübcke sind einschneidende historische und zutiefst erschütternde Momente. Der NSU, seine Vorgeschichte und der NSU-Prozess sind Dokumente eines Versagens. Das alles sind sehr dunkle Phänomene, die unserem Selbstbild als offener Gesellschaft schmerzlich entgegenstehen. Jede und jeder von uns ist gefordert, sich solchen Angriffen entschieden entgegenzustellen. Politik, historische Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Medien müssen in der Verantwortung, die sie tragen, zusammenstehen und etwas betonen, das eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist: nämlich, dass das Menschheitsverbrechen, der Holocaust, historisch beispiellos ist und niemals in Vergessenheit geraten kann und darf. Und dass eine Relativierung nicht infrage kommt. Jegliche Relativierung muss tabuisiert sein.

Welche Aufgaben für die Kulturpolitik gehen damit einher?
Die Räume von Kunst und Kultur sind öffentliche Räume, sofern die öffentliche Hand sie finanziert, was bei den meisten deutschen Museen der Fall ist. Sie prägen unsere kulturelle Stadtlandschaft. Das sind Räume, in denen Freiheit und Pluralismus gelebt werden. Mein Ansatz ist, dass diese Räume tatsächlich offen für alle sein müssen. Dafür müssen wir niedrigschwellige Angebote schaffen. Dass wir beispielsweise den kostenfreien Eintritt für Kinder und Jugendliche ermöglicht haben, ist kein Zufall, sondern aus der tiefen Überzeugung heraus entstanden, dass diese Räume des Austauschs und Begegnung allen gehören und für alle zugänglich sein sollen. In einer Einwanderungsgesellschaft, die wir faktisch sind, ist es wichtig, dass es diese Orte gibt, an denen man sich trifft und die ein Identifikationsangebot schaffen. Wir leben hier in einer Stadt, in der Kinder aus vielen verschiedenen Ländern gemeinsam die Schule besuchen. Das ist eine große Herausforderung, aber auch ein großer Reichtum. Wir müssen allen Kindern gleichermaßen dieses Angebot machen – das ist eine ganz entscheidende Aufgabe der Kulturpolitik.

Sie haben gesagt, dass uns ohne die Zeitzeugen die unmittelbare Erinnerung verloren geht. Wie kann die Erinnerung dennoch, auch über die Zeitzeugen hinaus, wachgehalten werden?
Wir fördern in diesem Kontext verschiedene Projekte, auf zwei möchte ich gern genauer eingehen: Ein zentrales Projekt ist das Denkmal für die Kindertransporte. Frankfurt war ein wichtiger Ausgangspunkt der rettenden Kindertransporte, die jüdische Kinder während der 30er-Jahre mit dem Zug aus dem nationalsozialistischen Deutschland brachten und vor der Verfolgung bewahrten. In den meisten Fällen war der Abschied endgültig, die Eltern wurden in der Regel in den Konzentrationslagern ermordet. Die Stadt Frankfurt plant ein Denkmal, um an dieses historische Kapitel und die damit verbundenen Menschen zu erinnern. Wir freuen uns sehr, dass wir mit Yael Bartana, Anne Imhof, Ella Littwitz, Michaela Meliàn und Ernst Stark fünf international renommierte Künstlerinnen und Künstler gewinnen konnten. (Anm. d. Red.: Inzwischen hat die Stadt Frankfurt den Siegerentwurf präsentiert: „The Orphan Carousel“ von der israelischen Künstlerin Yael Bartana) Wir bauen bei diesem Projekt auch auf die Spendenbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, verschiedene Stiftungen haben ihre Unterstützung bereits zugesagt.

Weiterhin setze ich mich für ein angemessenes Gedenken in den Räumen des KZ „Katzbach“ ein: Mitten in Frankfurt, im Gallusviertel, existierte ab 1944 ein Konzentrationslager in den Adlerwerken, das intern den Namen Katzbach trug. Unter den Opfern befanden sich vor allem Teilnehmer des Warschauer Aufstandes, Menschen, die aus Polen zur Zwangsarbeit nach Frankfurt deportiert wurden. Das ist bis heute vielen Frankfurterinnen und Frankfurtern unbekannt – obwohl es mitten in der Stadt geschehen ist.


Weitere Beiträge zu Frankfurts nationalsozialistischer Vergangenheit finden Sie in der Februar-Ausgabe des JOURNAL FRANKFURT.
 
14. Februar 2020, 09.40 Uhr
Ronja Merkel
 
Ronja Merkel
Jahrgang 1989, Kunsthistorikerin, von Mai 2014 bis Oktober 2015 leitende Kunstredakteurin des JOURNAL FRANKFURT, von September 2018 bis Juni 2021 Chefredakteurin. – Mehr von Ronja Merkel >>
 
 
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