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Frankfurter Untergrund
Perspektiven jenseits des Unrats der Frankfurter Altstadt
Der Fotograf Peter Seidel findet seine Motive gerne im unterirdischen Frankfurt. Im Interview mit dem JOURNAL erzählt er über Klärwerke, den Römer und Ganzkörperbewässerung.
Herr Seidel, welcher Ort des Frankfurter Untergrunds ist Ihr liebster?
The first love. Das alte Klärwerk Niederrad, das war zum ersten Mal bewusstes fotografisches Sehen von Architektur, von Räumen. 1979 war ich angekommen an einem Ort, an dem ungeahnte Energien freigesetzt wurden. Oft war ich in dem Hygiene-Tempel, den William Lindley und Sohn geschaffen hatten. Bei jedem Schritt boten sich neue Perspektiven, ein Balanceakte von hell bis dunkel, Sonnenlicht, eingelassen von Lichtkuppeln, damals noch in Betrieb – und die blubbernden Ausscheidungen der Stadt.
Das klingt jetzt aber nicht sehr angenehm …
Nun ja, es war ein Abstieg hinab in Gummihosen bis zu den Ohren, alles fürs Foto: Stahltore, Räder an Ketten, wie in den grandiosen „Carceri d’invenzione“ des Kupferstechers aus Venedig. Szenerien zum Raumwandeln, da ein Treppchen, dort ein Koloss von Elektromotor, meterdicke Rohre, Spannung zwischen Bögen. Es gab keine Bedrohung, eher Ehrfurcht in einem vorausschauend von den Müttern und Vätern der Stadt verwirklichten Bauwerk zum Überleben. Man könnte auch sagen, es war eine Kampfansage im 19. Jahrhundert gegen Unrat der pittoresken Frankfurter Altstadt. Ein Meilenstein der Industriearchitektur.
Peter Seidl
Was fasziniert Sie an gewölbeartiger Architektur?
Das Archaische, Schutz, Geborgenheit, Sicherheit, Versteck vor Feinden, Heimat, Nest. Es ist ein Ort zur Entfaltung des Ich. Wir machten es uns doch schon vor zigtausend Jahren kommod in der Höhle, mit eingebauter Kunstgalerie. Der Mutterleib. Während der Jahre im Untergrund habe ich oben hart gearbeitet, mit Fotos der Museumsneubauten, Werbung Geld verdient um in eigene Projekte zu investieren. Wurde es mir oben zu viel, zog ich mich in eins meiner Klöster zurück. Es war eine Auszeit zum Arbeiten. Die Stille habe ich genossen.
Grusel ist eingebaut, ein liebevoller Eigenalarm des Menschen
Gewölbe sind kleine Himmelshauben, Zwischenhimmel. Es sind Augenweiden in allen Stilen, Zeiten, Ländern, Dimensionen, Materialien. Jeder Baumeister musste alles geben, damit die Konstruktion funktioniert, die beauftragte Wirkung erzielt wurde.
Haben Sie eine kleine Anekdote parat?
Klar, es war Winter 1991 Oelsnitz, ein Bergwerk in Abwicklung. Der Aufzug rauschte mit mir in ein paar Hundert Meter in die Tiefe. In einem Schacht mit Gewölbe entstand ein See, der Schacht war bis etwa 1000 Meter geräumt, Pumpen ausgebaut, Pegel angehoben. Ich konnte nicht fotografieren, Linsen beschlugen. Und der Steiger rief mir zu „Nu kommse rein, 36°, leicht gechlort, CO2.“ Ich folgte ihm, Ganzkörperwässerung, in einen fünfhundert Meter tiefen Bergwerkssee. Ohne Badehose.
Ich kann nur empfehlen, Auschwitz oder ein anderes KZ zu besuchen
Aber der Grusel ist es nicht, der Sie reizt.
Grusel ist eingebaut, ein liebevoller Eigenalarm des Menschen, wenn die Härchen sich aufstellen. Das reizt mich auch, ich liebe klassische Geisterbahnen, wo das Gesicht durch den Vorhang eines lappigen Feudels fährt. Das Erleben ist wichtig, die Frage zu stellen, wie geht es mir hier? Es ist ein Geschenk an Erfahrung, um die wir uns mit unseren einöden implantierten Datenbrettern vorm Kopf berauben lassen. Dem hier rein, da raus, ach ja, wie furchtbar. Ich kann nur empfehlen, Auschwitz oder ein anderes KZ zu besuchen. Da merkt man, was alles an Gefühlen in einem drinsteckt, viel davon verschüttet. Ich bin oft an Orten, wo es weh tut, Dinge passiert sind, die gern verdrängt werden. Ich gehe dort hin, um das Gegenteil zu erreichen, Unbequemes aus dem Zusammenhang zu lösen, ans Licht zu holen, neue Zusammenhänge herzustellen.
Wie meinen Sie das?
Jeder, der ein Bild macht, hat Verantwortung. Losgelassen ist es nicht mehr kontrollierbar, es gibt keine Unschuld, egal ob Profi ob Knipsi. Es ist ein Vehikel, das Informationen transportiert, die man hineinlegt mit allen Entscheidungen, was man zeigt, was nicht. Es braucht Allgemeingültigkeit, damit es Menschen erreicht.
Wie sieht es unter dem Frankfurter Römer aus?
Ich kenne nur den in Öde ruhenden Keller, zeitweilig Saal zur städtischen Mitarbeiterspeisung. Kaum zu glauben, dass es in den Leerjahren nicht möglich gewesen ist, ihn intelligent zu nutzen. Viele finden für Projekte keine Räume. Warum kann man hier zum Beispiel nicht ein Lokal einrichten, von Behinderten betrieben, Inklusion?
Orte im Frankfurter Untergrund nur selten zugänglich
Sie beschäftigen sich bereits länger mit dem Phänomen der „Lost Places“, wie kamen Sie dazu?
In den 1970ern machte ich street photography, also tote Taube und Schnapsflasche, oder nasse Bagwhan-Jüngerinnen auf der Fressgaß. Später habe ich dann Industriegebiete durchstreift, Klärwerke. Jahre später hatte ich ohne Ahnung, Ausrüstung, Geld, Literatur „Hessen - Denkmäler der Industrie und Technik“ mit einem Berliner Verleger gestemmt. Ziel war es, Augen zu öffnen für den Wert von historischen technischen und industriellen Bauwerken unseres Bundeslandes, das damals den Ruf eines Agrarlandes hatte. 1987 folgte dann eine Einzelausstellung im DAM.
Warum sind diese Orte so selten zugänglich?
Es geht um Sicherheit, Versicherung, Personal. Und um einen Konflikt zwischen dem Ort, seiner Funktion und Publikum. Um Raumprobleme, Zufahrt, Parken, Bedenken, sich angreifbar zu machen, über das Kerngeschäft hinauszublicken. Hinzu kommt, dass Trinkwasseranlagen, unser Grundnahrungsmittel, ungeschützt wären und kein Guide könnte verhindern, dass hier nicht von Besuchern Schindluder getrieben wird.
Gewinnspiel__________________________________________________________
Das JOURNAL FRANKFURT verlost exklusiv zehn Exemplare von Peter Seidels Publikation „Besichtung - 100 Jahre Kulturamt Frankfurt“. Es ist „die Wirklichkeit des Untergrunds“, die ihn interessiert. Hier geht es bis zum 24. Mai zum Gewinnspiel.
The first love. Das alte Klärwerk Niederrad, das war zum ersten Mal bewusstes fotografisches Sehen von Architektur, von Räumen. 1979 war ich angekommen an einem Ort, an dem ungeahnte Energien freigesetzt wurden. Oft war ich in dem Hygiene-Tempel, den William Lindley und Sohn geschaffen hatten. Bei jedem Schritt boten sich neue Perspektiven, ein Balanceakte von hell bis dunkel, Sonnenlicht, eingelassen von Lichtkuppeln, damals noch in Betrieb – und die blubbernden Ausscheidungen der Stadt.
Das klingt jetzt aber nicht sehr angenehm …
Nun ja, es war ein Abstieg hinab in Gummihosen bis zu den Ohren, alles fürs Foto: Stahltore, Räder an Ketten, wie in den grandiosen „Carceri d’invenzione“ des Kupferstechers aus Venedig. Szenerien zum Raumwandeln, da ein Treppchen, dort ein Koloss von Elektromotor, meterdicke Rohre, Spannung zwischen Bögen. Es gab keine Bedrohung, eher Ehrfurcht in einem vorausschauend von den Müttern und Vätern der Stadt verwirklichten Bauwerk zum Überleben. Man könnte auch sagen, es war eine Kampfansage im 19. Jahrhundert gegen Unrat der pittoresken Frankfurter Altstadt. Ein Meilenstein der Industriearchitektur.
Peter Seidl
Was fasziniert Sie an gewölbeartiger Architektur?
Das Archaische, Schutz, Geborgenheit, Sicherheit, Versteck vor Feinden, Heimat, Nest. Es ist ein Ort zur Entfaltung des Ich. Wir machten es uns doch schon vor zigtausend Jahren kommod in der Höhle, mit eingebauter Kunstgalerie. Der Mutterleib. Während der Jahre im Untergrund habe ich oben hart gearbeitet, mit Fotos der Museumsneubauten, Werbung Geld verdient um in eigene Projekte zu investieren. Wurde es mir oben zu viel, zog ich mich in eins meiner Klöster zurück. Es war eine Auszeit zum Arbeiten. Die Stille habe ich genossen.
Grusel ist eingebaut, ein liebevoller Eigenalarm des Menschen
Gewölbe sind kleine Himmelshauben, Zwischenhimmel. Es sind Augenweiden in allen Stilen, Zeiten, Ländern, Dimensionen, Materialien. Jeder Baumeister musste alles geben, damit die Konstruktion funktioniert, die beauftragte Wirkung erzielt wurde.
Haben Sie eine kleine Anekdote parat?
Klar, es war Winter 1991 Oelsnitz, ein Bergwerk in Abwicklung. Der Aufzug rauschte mit mir in ein paar Hundert Meter in die Tiefe. In einem Schacht mit Gewölbe entstand ein See, der Schacht war bis etwa 1000 Meter geräumt, Pumpen ausgebaut, Pegel angehoben. Ich konnte nicht fotografieren, Linsen beschlugen. Und der Steiger rief mir zu „Nu kommse rein, 36°, leicht gechlort, CO2.“ Ich folgte ihm, Ganzkörperwässerung, in einen fünfhundert Meter tiefen Bergwerkssee. Ohne Badehose.
Ich kann nur empfehlen, Auschwitz oder ein anderes KZ zu besuchen
Aber der Grusel ist es nicht, der Sie reizt.
Grusel ist eingebaut, ein liebevoller Eigenalarm des Menschen, wenn die Härchen sich aufstellen. Das reizt mich auch, ich liebe klassische Geisterbahnen, wo das Gesicht durch den Vorhang eines lappigen Feudels fährt. Das Erleben ist wichtig, die Frage zu stellen, wie geht es mir hier? Es ist ein Geschenk an Erfahrung, um die wir uns mit unseren einöden implantierten Datenbrettern vorm Kopf berauben lassen. Dem hier rein, da raus, ach ja, wie furchtbar. Ich kann nur empfehlen, Auschwitz oder ein anderes KZ zu besuchen. Da merkt man, was alles an Gefühlen in einem drinsteckt, viel davon verschüttet. Ich bin oft an Orten, wo es weh tut, Dinge passiert sind, die gern verdrängt werden. Ich gehe dort hin, um das Gegenteil zu erreichen, Unbequemes aus dem Zusammenhang zu lösen, ans Licht zu holen, neue Zusammenhänge herzustellen.
Wie meinen Sie das?
Jeder, der ein Bild macht, hat Verantwortung. Losgelassen ist es nicht mehr kontrollierbar, es gibt keine Unschuld, egal ob Profi ob Knipsi. Es ist ein Vehikel, das Informationen transportiert, die man hineinlegt mit allen Entscheidungen, was man zeigt, was nicht. Es braucht Allgemeingültigkeit, damit es Menschen erreicht.
Wie sieht es unter dem Frankfurter Römer aus?
Ich kenne nur den in Öde ruhenden Keller, zeitweilig Saal zur städtischen Mitarbeiterspeisung. Kaum zu glauben, dass es in den Leerjahren nicht möglich gewesen ist, ihn intelligent zu nutzen. Viele finden für Projekte keine Räume. Warum kann man hier zum Beispiel nicht ein Lokal einrichten, von Behinderten betrieben, Inklusion?
Sie beschäftigen sich bereits länger mit dem Phänomen der „Lost Places“, wie kamen Sie dazu?
In den 1970ern machte ich street photography, also tote Taube und Schnapsflasche, oder nasse Bagwhan-Jüngerinnen auf der Fressgaß. Später habe ich dann Industriegebiete durchstreift, Klärwerke. Jahre später hatte ich ohne Ahnung, Ausrüstung, Geld, Literatur „Hessen - Denkmäler der Industrie und Technik“ mit einem Berliner Verleger gestemmt. Ziel war es, Augen zu öffnen für den Wert von historischen technischen und industriellen Bauwerken unseres Bundeslandes, das damals den Ruf eines Agrarlandes hatte. 1987 folgte dann eine Einzelausstellung im DAM.
Warum sind diese Orte so selten zugänglich?
Es geht um Sicherheit, Versicherung, Personal. Und um einen Konflikt zwischen dem Ort, seiner Funktion und Publikum. Um Raumprobleme, Zufahrt, Parken, Bedenken, sich angreifbar zu machen, über das Kerngeschäft hinauszublicken. Hinzu kommt, dass Trinkwasseranlagen, unser Grundnahrungsmittel, ungeschützt wären und kein Guide könnte verhindern, dass hier nicht von Besuchern Schindluder getrieben wird.
Gewinnspiel__________________________________________________________
Das JOURNAL FRANKFURT verlost exklusiv zehn Exemplare von Peter Seidels Publikation „Besichtung - 100 Jahre Kulturamt Frankfurt“. Es ist „die Wirklichkeit des Untergrunds“, die ihn interessiert. Hier geht es bis zum 24. Mai zum Gewinnspiel.
10. Mai 2023, 12.15 Uhr
Katja Thorwarth
Katja Thorwarth
Die gebürtige Frankfurterin studierte an der Goethe-Uni Soziologie, Politik und Sozialpsychologie. Ihre journalistischen Schwerpunkte sind Politik, politisches Feuilleton und Meinung. Seit März 2023 Leitung online beim JOURNAL FRANKFURT. Mehr von Katja
Thorwarth >>
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