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Foto: Rainer Golembiewski
Foto: Rainer Golembiewski

Sozialfotografie

Politik und Poesie

Was nüchtern klingt, hat einen politischen Anspruch und einen besonderen ästhetischen Reiz: Sozialfotografie. In seinem Buch „Augen in der Großstadt“ hat Rainer Golembiewski den Wandel Offenbachs dokumentiert.
Es gibt Gesichter, die verbindet man wie selbstverständlich mit einem ganz konkreten Ort. Man weiß, dass man bestimmte Personen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit immer wieder dort antreffen wird. Und obwohl man annehmen darf, dass sie aus denselben Gründen wie man selbst den Platz wertschätzen, begrüßt man sich zwar irgendwann einmal freundlich, doch dabei bleibt es oft noch lange Zeit. Manchmal aber kommt es dann doch zu einem ersten Gedankenaustausch – wenn auch nur über das Equipment.

Aber der Autor ahnte lange nichts von Rainer Golembiewskis wahrer Leidenschaft. Im April kam eine Nachricht via Facebook. „Ich mache ein Projekt“, kündigte Golembiewski ein Buch mit dem Titel „Augen in der Großstadt“ zur Veröffentlichung im Sommer an. Die 140 Seiten kamen als Ansichtsexemplar per PDF. Mit beeindruckenden Bildern von einer Stadt im Umbruch. „Dies ist eine sehr persönliche Dokumentation“, leitet der gebürtige Erfurter, der 1969 nach Offenbach zog, sein Vorwort ein. Ein Blick zurück auf die vergangenen zehn Jahre in einem bunten vielfältigen Kaleidoskop. „Offenbach begann sich massiv zu verändern. Der alte Hafen, Man-Roland, Kappus, Mato, die Farbwerke – die alten Industrien verschwanden immer mehr“, umreißt Golembiewski, was es festzuhalten galt, genauso aber auch, wie andererseits vieles rasend schnell neu entstand und sich weiterentwickelte. Als urbane und vor allem als „Sozialfotografie“ möchte er seine Arbeit verstanden wissen.

Als Fotograf ist der gelernte Buchdrucker Autodidakt. „Alles selbst beigebracht“, sagt er lachend. „Ich habe Mitte der Siebzigerjahre angefangen zu fotografieren, in Schwarzweiß und mit eigener Dunkelkammer.“ Ein Klassiker. Seit 50 Jahren ist er Gewerkschaftsmitglied, erst bei der IG Druck und Papier, dann der IG Medien, jetzt bei Verdi. Da es von der „bürgerlichen Presse“ (wie man gerne bissig anmerkte) nicht zu erwarten gewesen sei, dokumentierte er „aus der Not heraus geboren“ die großen Demos selbst, fand mehr und mehr Gefallen daran, wollte sein Wissen vertiefen und las viel über Fotografie.

1978 wurde Golembiewski Mitglied der Arbeiterfotografen, einer wiederbelebten Bewegung der 1920er-Jahre. 1981 entstand aus der Zusammenarbeit mit anderen Offenbacher Fotografen und Autoren das Bilder-Lesebuch „Menetekel und Aktion in Offenbach“ mit Schwarzweiß-Bildern von Hausbesetzungen, Demos und dem Beginn des Untergangs der Offenbacher Industrien. 2001 wurde „Ich bekenne: Ich habe mich gewehrt!“ veröffentlicht. „Ein Buch über die Friedensbewegung, Gewerkschaftsbewegung und die Startbahn-West-Bewegung gegen die Erweiterung des Frankfurter Flughafens“, benennt Golembiewski die Themen. „Alle 20 Jahre ein Buch“, hatte er sich daraufhin vorgenommen.

„Und mein Glück war, dass sie da angefangen haben, den alten Hafen in Offenbach abzureißen“, erinnert sich Golembiewski an die Zeit vor zehn Jahren. „Das habe ich gesehen und da ist mir klar geworden, jetzt könnte ich mal anfangen, nicht nur Demonstrationen zu fotografieren, sondern den Blick auf die Stadt Offenbach zu werfen, was ich vorher nicht machen konnte, weil ich berufstätig war.“ Learning by doing hieß sein Prinzip. „Du brauchst ja Zeit, auch zu entdecken, dass das Licht um 13 Uhr ein ganz anderes ist als das um 18 Uhr.“ Um die gewünschten Stimmungen aufs Bild zu bannen, musste man die Orte öfters besuchen. Die Industrie, den Hafen, die Architektur wollte er ohne Menschen ablichten.

Für einen politisch engagierten Menschen lag es nahe, die soziale Wirklichkeit zu erfassen, diese aber ästhetisch und poetisch zu inszenieren, sein Anliegen ganz ohne Worte zu kommunizieren. Fast. Die abgebildeten Transparente etwa beim Ostermarsch oder zum 1. Mai sprechen eine deutliche Sprache.





Sein absolutes Lieblingsmotiv hat er vor circa acht Jahren fotografiert. Das Hinweisschild „Gefährlicher Sog“ verwies einst auf Strömungen im Hafenbecken, aber so wie Golembiewski die Perspektive wählte mit den ersten Neubauten auf der Hafeninsel im Hintergrund bekommt die Warnung eine andere Bedeutung von hoher Symbolkraft. Wertfrei hat es zur Freude des Urhebers niemand betrachtet. „Ich war überrascht, wie viele das auf Anhieb gemerkt und sofort gesehen haben, was damit gemeint ist.“ Wer kann es sich noch leisten, zumal in Offenbach, dort einzuziehen, steht als Frage im Raum. „Dieses Bild ist symptomatisch für die ganze Situation.“ Die Augen in der Großstadt sollen all das wahrnehmen. Ein Zitat von Jean-Luc Godard möchte Golembiewski noch mit uns teilen: „Es ist sinnlos, scharfe Bilder zu produzieren, wenn man verschwommene Ideen im Kopf hat.“

>>„Augen in der Großstadt“ von Rainer Golembiewski ist unter anderem im Buchladen am Markt in Offenbach erhältlich. Zudem ist eine PDF-Version online einsehbar.

Eine vollständige Version dieses Textes ist zuerst in der August-Ausgabe (8/21) des JOURNAL FRANKFURT erschienen.
 
21. September 2021, 12.00 Uhr
Detlef Kinsler
 
Detlef Kinsler
Weil sein Hobby schon früh zum Beruf wurde, ist Fotografieren eine weitere Leidenschaft des Journal-Frankfurt-Musikredakteurs, der außerdem regelmäßig über Frauenfußball schreibt. – Mehr von Detlef Kinsler >>
 
 
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