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Foto: Dirk Ostermeier
Foto: Dirk Ostermeier

Obdachlosigkeit

Elendsverwaltung

In diesem Winter wurden auf den Straßen Deutschlands bereits 17 Kältetote verzeichnet. In Notunterkünften und mit dem Kältebus geben Helfer:innen ihr Bestes, um Obdachlose zu unterstützen. Doch in der Politik fehlt es an langfristigen Lösungen.
Am 9. Februar 2021 fielen die Temperaturen in manchen Teilen Frankfurts auf -11°C, und damit erstmals seit mehr als vier Jahren in den zweistelligen Minusbereich. Für Obdachlose bedeuten diese Temperaturen Lebensgefahr. Allein in diesem Winter hat es nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslose deutschlandweit bereits 17 Kältetote gegeben, so viele wie seit dem Winter 2009/2010 nicht mehr.

Am 8. Februar dieses Jahres gab das Sozialdezernat bekannt, die Winterhilfe für Obdachlose zu verstärken und die Unterkunft in der B-Ebene am Eschenheimer Tor früher öffnen und vormittags einen längeren Aufenthalt ermöglichen zu wollen. „Etwa 80 Menschen haben trotz dieses niedrigschwelligen Angebots in den vergangenen Tagen draußen übernachtet“, hieß es anschließend seitens des Dezernats. Für sie stehe der Kältebus zur Verfügung, tagsüber suchten Sozialarbeiter:innen die Obdachlosen auf den Straßen auf. In diesen Wochen biete man auch Menschen eine Unterbringung an, „die keinen Rechtsanspruch auf Sozialleistungen in Deutschland haben“, so Sozialdezernentin Daniela Birkenfeld (CDU).

So nötig kurzfristige Lösungen sind, desto deutlicher unterstreichen sie auch die Mängel, in deren Kontext Kritiker:innen schon seit geraumer Zeit ein Umdenken der Politik fordern. So wurde der CDU-Fraktionsvorsitzende Nils Kößler unter anderen von der Linken und der PARTEI dafür kritisiert, in einem Facebook-Post neben dem Kältebus zu posieren, anstatt sich für die Öffnung leerstehender Hotels für Obdachlose einzusetzen. Im Dezember des vergangenen Jahres forderte dies bereits die Kampagne „Frankfurt hat Platz!“ mit der Demonstration „Open the hotels“. Am 28. Januar machten Aktivist:innen erneut auf die prekäre Situation aufmerksam. Man sei schockiert, dass die B-Ebene am Eschenheimer Tor und zuvor an der Hauptwache seit Jahren als angemessener Übernachtungs- und nun auch Tagesaufenthalt dargestellt werde, hieß es seitens der Ada-Kantine in einem offenen Brief an die Sozialdezernentin. Die Suche nach menschenwürdigen Unterkünften scheine komplett eingestellt worden zu sein. „Selbst wenn man es rein ökonomisch betrachtet, ist die Anmietung von Hotels und Gemeinschaftsunterkünften für die Stadt wesentlich teurer, als wenn sie in langfristige Lösungen investieren würde“, sagt Yannik Böckenförde von der Ada-Kantine.

Kritik an Notunterkunft

Unter Aktivist:innen und Expert:innen steht die Notunterkunft am Eschenheimer Tor gleichermaßen in der Kritik und gilt als Zumutung für die Betroffenen; kritisiert wird dabei auch die Aussage der Sozialdezernentin, dass das Angebot nicht von jedem Betroffenen angenommen werde. „Wenn die Menschen nicht alles annehmen, heißt es direkt, dass sie die Hilfe nicht brauchen“, führt Gabi Hanka von der Initiative Seebrücke aus. „Es werden ihnen keine Rechte zugestanden, umgekehrt kann ich mir nicht vorstellen, dass die Verantwortlichen gerne in der B-Ebene übernachten würden.“ Bewusst hatte die Kampagne „Frankfurt hat Platz“, zu der auch die „Seebrücke“ gehört, die Themen Obdachlosigkeit, Unterbringung von Geflüchteten und Aufenthaltsmöglichkeiten für EU-Bürger:innen unter einem Leitsatz vereint. „Wir sprechen uns ganz deutlich in allen Bereichen gegen Sammelunterkünfte aus. Sie sind nicht menschenwürdig und sorgen dafür, dass Menschen bewusst ausgegrenzt werden.“ Oft hätten sie den Eindruck, dass die Stadt so versuche, abzuschrecken, ergänzt Andreas Werther von der Seebrücke. Das zeige sich auch in der repressiven Haltung gegenüber Selbsthilfeaktionen; Hausbesetzungen würden in Frankfurt „mit harter Hand“ beendet, sowie Hüttendörfer auf Brachgeländen geräumt. „Dabei müsste die Stadt eigentlich auf die Betroffenen zugehen, ihnen menschenwürdigen Wohnraum zur Verfügung stellen und sie unterstützend begleiten.“

Kathrin Schrader und Christian Kolbe, Lehrende im Fachbereich Soziale Arbeit der Frankfurt University of Applied Science mit den Schwerpunkten Menschen in prekären Lebenslagen und Armutsprävention, wurden vor sechseinhalb Jahren an die Hochschule berufen, zuvor wurde das Thema Obdachlosigkeit im Fachbereich längere Zeit nicht gesondert behandelt. Auch sie kritisieren sowohl die kurz- als auch langfristigen Vorgehensweisen zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit. „Es ist skandalös. Sämtliche Obdachlosen-Einrichtungen in Frankfurt sind unterfinanziert. Für minderjährige Obdachlose existieren keine Schutzräume außerhalb von Zwangskontexten. Frauen sind von massiver sexueller Gewalt betroffen. Da stellt sich an erster Stelle die Frage, wie die Motivlage der Gesellschaft aussieht. Hier geht es nicht um eine langfristige Perspektive für die Leute, vielmehr haben wir es mit einer Elendsverwaltung zu tun“, sagt Schrader. Wenn nicht nur die Situation der Menschen prekär sei, sondern auch die der Sozialen Arbeit, mache dies die Situation doppelt schwierig, ergänzt Kolbe.

Problematisch sei die allgemeine Moralisierung von Obdachlosigkeit, damit klammere man strukturelle und rechtliche Faktoren aus. Gemeint sind neben fehlenden Sozialwohnungen auch die Klärung von Rechten für EU-Bürger:innen und deren Absicherung jenseits humanitärer Hilfen. Ein Thema, das in Frankfurt bereits im vergangenen Jahr sauer aufgestoßen war, als der Magistrat versucht hatte, die Veröffentlichung einer vom Amt für multikulturelle Angelegenheiten in Auftrag gegebene Studie über obdachlose EU-Bürger:innen zu verhindern. „Die Studie machte deutlich, dass die Roma-Community systematisch benachteiligt wird und in Frankfurter Behörden verschiedentlich Antiziganismus in der Praxis beobachtbar ist“, so Schrader. Für obdachlose Menschen sei es vielfach bereits schwierig, eine Postadresse zu organisieren. Auch dafür sei es wichtig, auf kommunaler Ebene nach Lösungen zu suchen, beispielsweise mit einer Art städtischem Citizenship.

Ist „Housing first“ die Lösung?

Immer häufiger taucht im Zusammenhang mit Obdachlosigkeit das Konzept „Housing first“ auf, das Obdachlosen ermöglicht, ohne vorherige Schritte direkt in eine eigene Wohnung ziehen zu können, um dort anschließend entlang ihrer Bedürfnisse unterstützt zu werden. Ursprünglich aus den USA stammend, und unter anderem in Finnland bereits sehr erfolgreich umgesetzt, finden auch in Wien, Gießen, Berlin und Saarbrücken erste Pilotprojekte statt. „Noch laufen die Projekte nicht lange genug, aber bisher funktioniert es. Das Vorurteil, dass Menschen ohne Obdach das Wohnen erst wieder erlernen müssten, per se wohnunfähig seien, trifft nicht. Sie haben vor allem eines nicht, eine angemessene Wohnung“, betont Christian Kolbe. Jedoch herrsche in Frankfurt ein „völlig deregulierter Wohnungsmarkt“, dem es ohnehin an Sozialwohnungen fehle. „Erst macht man die Menschen obdachlos, um sie dann wieder in eine Wohnung zu bringen, Unterstützung müsste viel früher ansetzen“, führt Schrader aus. „Im Endeffekt will jedoch niemand im strömenden Regen in einem Schlafsack liegen.“

Auch einige Parteien des Magistrats haben sich mittlerweile für das Konzept „Housing first“ ausgesprochen. Anfang Januar sagte Oliver Strank (SPD), Ortsvorsteher des Ortsbeirats 1, anlässlich eines Antrags der SPD, dass eine solche Maßnahme rein ökonomisch betrachtet, langfristig kostengünstiger für die Stadt sei. „Mir ist bewusst, dass der Wohnraum knapp ist, aber es geht hier nicht um Personen, die nach Frankfurt ziehen wollen, sondern um Menschen, die auf der Straße leben“, so Strank. Auch die Linken, die Grünen und Volt haben die Schaffung von Sozialwohnungen für Obdachlose in ihren Programmen für die kommende Kommunalwahl verankert. Die FDP bleibt mit einer „Entbürokratisierung“ der Obdachlosenhilfe und einer zentralen Beratungsstelle vage in ihren Aussagen für langfristige Lösungen. Die CDU spricht sich lediglich für ein sogenanntes „Hygienecenter“ mit Wasch- und Duschräumen am Hauptbahnhof aus sowie für das Voranbringen und polizeirechtliche Durchsetzen eines Bettelverbots.

In einem Fernsehinterview über die Initiative „100 Nachbarn“, die sich vergangenes Jahr zu Beginn der Pandemie gründete, um Obdachlose im Bahnhofsviertel zu unterstützen, sagte Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD), er finde es toll, dass sich Anwohnende einsetzten und nicht darauf warteten, dass der Staat oder die Stadt etwas tue. „Solche Initiativen machen aufmerksam auf Dinge, die wir einfach übersehen, die vielleicht zu kleinteilig sind.“ Im Anschluss versprach Feldmann, sich für die Installation eines Trinkwasserspenders im Bahnhofsviertel einzusetzen. Das ist bis heute nicht geschehen.

Eine ausführlichere Version dieses Textes ist bereits in der aktuellen Ausgabe (3/2021) des JOURNAL FRANKFURT erschienen.
 
18. März 2021, 13.43 Uhr
Johanna Wendel
 
Johanna Wendel
Jahrgang 1993, Technikjournalismus-Studium an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, seit Januar 2019 beim Journal Frankfurt. – Mehr von Johanna Wendel >>
 
 
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