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Foto: Ministerium für Wissenschaft und Kunst
Foto: Ministerium für Wissenschaft und Kunst

Gila Lustiger im Interview

Es gab keine Stunde Null

Die Schriftstellerin Gila Lustiger arbeitet an einem Roman, in dem sie den Displaced Persons im Lager Frankfurt-Zeilsheim ein Denkmal setzt. Jetzt liest sie im Mousonturm
JOURNAL FRANKFURT: Sie lesen am 9. November in Ihrer Geburtsstadt Frankfurt erstmals aus Ihrem Roman, der noch in Arbeit ist. Das Datum ist mit Sicherheit kein Zufall. Was bedeutet Ihnen das?
GILA LUSTIGER: Das mag sich vielleicht kitschig anhören: Ich bin froh, dass das möglich ist. Es ist fast eine Ironie des Schicksals, dass ich ausgerechnet an einem 9. November aus einem Buch über DPs, über Displaced Persons, lesen werde. Vor allem deshalb, weil es auch meinen Vater eigentlich nicht mehr hätte geben dürfen.

Der Roman, an dem Sie arbeiten, trägt den Arbeitstitel „Die Entronnenen“. Im September haben Sie für einen Auszug daraus den Robert-Gernhardt-Preis erhalten. Können Sie erzählen, worum es geht?
Ich versuche es, aber es ist ein Work in Progress, das heißt: Ich werde mich selbst überraschen und kann nicht prognostizieren, wie ich meinen Stoff verarbeiten werde. So wie ich das Buch bislang konzipiert habe, komme ich selbst als Randfigur im Roman vor. Der Erzähler ist ein deutscher Schriftsteller, den ich, Gila Lustiger, davon überzeugen will, die Geschichte der Displaced Persons im DP-Lager in Zeilsheim aufzuschreiben. Er wird und soll dann mit meiner Hilfe die Geschichte der DPs erforschen. Diese Konstruktion verschafft mir größere erzählerische Möglichkeiten, beispielsweise auch die, mich selbst ironisch als nörglerische Jüdin mit moralisch erhobenem Zeigefinger auftreten zu lassen. Wobei ich klar sagen muss: Das Schicksal der DPs ist für mich kein jüdisches Thema. Es gab in Deutschland einige Millionen DPs, die aus den Lagern befreit wurden oder aus dem Untergrund zurückkehrten und die nichts mehr hatten: keine Familien, keinen Pass, keine Heimat, nicht einmal Kleidung und Nahrung und wie diese Menschen in einem Akt der Selbstbestimmung ein neues Leben angefangen haben – das ist von universellem Interesse.

Und auch von hoher Aktualität...
Ja. Die Heldin meines Romans stammt aus Lemberg, dem heutigen Lwiw in der Ukraine. Mein Protagonist begibt sich auf die Spuren dieser Frau und zeichnet ihren Lebensweg nach. Diese Stadt gelangte nach dem Ende der Habsburgermonarchie in polnische, sowjetische und ukrainische Hand. Dreimal wurden Fahnen gehisst, Bevölkerungen vertrieben, Denkmäler gestürzt. Aber die Juden haben immer der Habsburger Handelsmetropole nachgetrauert, weil sie ein Umschlagsort war nicht nur von Waren, sondern auch von Kulturen, Religionen und Sitten, weil dort Polen, Juden, Armenier, Ungaren und Ruthenen, das war die damalige Bezeichnung für Ukrainer, Seite an Seite gelebt haben. Die Juden waren, wenn Sie so wollen, die letzten Europäer. Wenn ich mir heute die Entwicklung des Ostens anschaue, durchtränkt von nationalistischer Folklore, wird mir, ehrlich gesagt, übel. In den DP-Camps haben die Menschen innerhalb von zwei, drei Jahren dieses vernichtete Europa noch einmal neu geschaffen und aufgebaut, in den Lagern. Sie haben Theatergruppen gegründet und Literaturzirkel und Berufsschulen und Sportvereine.

Ihr Vater war einer dieser Menschen. Ein Mann, der in sechs Konzentrationslagern war und mehrere Todesmärsche überlebt hat. 1945 kommt er nach Frankfurt – und macht einfach weiter, im Land der Täter.
Ja, und zwar macht er dort weiter, wo er vor der Judenverfolgung aufgehört hat. Er ist wieder zur Schule gegangen. Er hat nie von einem Neuanfang geredet. Diejenigen, die die Stunde Null propagierten, das wissen wir heute, waren diejenigen, die sich mit der Vergangenheit nicht auseinandersetzen wollten. Es gab keine Stunde Null, nicht für die Juden.

In Ihrer Dankesrede zum Gernhardt-Preis sagten Sie, Ihr Vater habe Ihnen gegenüber über seine Vergangenheit „schonend geschwiegen“. Hat er jemals angefangen, darüber zu reden?
Nein. Aber ich habe ja seine Bücher gelesen. Das ist Teil der Geschichte, die ich aufschreibe: Die DPs haben den Krieg ausgegrenzt. Schauen Sie: Die meisten Kinder von KZ-Überlebenden tragen Namen von ermordeten Familienmitgliedern. Bei den Juden sagt man, ein Mensch sei nicht tot, so lange man sich seiner erinnert. Mein Vater dagegen hat mich Gila genannt. Gila bedeutet „Glück“. Er wollte mir nicht die Erinnerung an eine Tote aufbürden. Er wollte mir nicht den Mord einschreiben. So war er. Das war sein Weg heraus.

Gila Lustiger wurde als Tochter des Historikers Arno Lustiger in Frankfurt geboren und lebt als Schriftstellerin in Paris. Für einen Auszug aus ihrem Manuskript „Die Entronnenen“ erhielt sie den Robert-Gernhardt-Preis 2015. Am 9.11. um 20 Uhr liest Gila Lustiger auf der Studiobühne im Mousonturm, Waldschmidtstraße 4, aus dem Manuskript. Der Eintritt kostet 12,–, ermäßigt 6,– Euro. Vorverkauf unter www.mousonturm.de.

Interview: Christoph Schröder
 
6. November 2015, 10.51 Uhr
red
 
 
Fotogalerie:
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